Seit der 200. Wiederkehr des Geburtstags von Joseph Freiherr von Eichendorff im Jahr 1988 wird dieser Tag, der 10. März, im oberschlesischen Geburtsort Lubowitz (polnisch Lubowice) des Dichters bei Ratibor alljährlich von der deutschen Bevölkerung jener Gegend festlich begangen: mit einem Gottesdienst in der Dorfkirche, einer Lichterprozession zum Grab der Eltern und Geschwister des Dichters auf dem alten Friedhof und mit Sang und Klang vor der Ruine des 1945 abgebrannten Schlosses. In diesem Jahr, dem ersten seit Eröffnung des nach Eichendorff benannten Kultur- und Begegnungszentrums in der Schloßstraße (ul. Zamkowa) von Lubowitz, konnten sich die Einheimischen und die zahlreichen auswärtigen Gäste nach der Prozession in jenem Haus bei Kaffee und Kuchen gütlich tun. Dazu spielte das in den Festsaal mit eingezogene Blasorchester kräftig auf. Es machte aber bald einer Schar Schulkinder und ihrer Lehrerin Platz, die das Auditorium mit Liedern und Gedichten auf den folgenden Festvortrag einstimmten und eine gedankliche Brücke zu der zuvor gehörten Predigt von Pfarrer Konrad Wersch herstellten, einem zum seelsorglichen Dienst in die alte Heimat zurückgekehrten Oberschlesier. Er hatte das Paulus-Wort »Unsere Heimat ist im Himmel« ausgelegt und sich dabei wiederholt auf Eichendorff bezogen, auf seine Sehnsucht nach »der Heimat stillen Plätzen« als »Grundton seines Schaffens« und das »Heimweh ... nach einer viel ferneren und tieferen Heimat« und den Dichter in einigen seiner unvergänglichen Verse sprechen lassen, wie:
Den Festvortrag hielt Prof. Dr. Eberhard G. Schulz, der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Kulturwerk Schlesien/Würzburg, zum Thema »Selbstüberwindung und Gottergebenheit im Werk Joseph von Eichendorffs«. Er sah in Eichendorff einen Klassiker, der durch die Anfechtungen und Verführungen der Romantik gegangen ist, aber ihre Schwächen überwunden hat. Während in der Romantik dem Individuellen, der Eigenart weit mehr Beachtung geschenkt werde als dem für alle Menschen gleichermaßen Geltenden, das Gefühl den Verstand beherrsche, lasse Eichendorff sich nicht vom Gefühl hinreißen oder von falschem Glanz blenden. Seine Lyrik und seine Erzählungen – letztere trotz ihres romantischen Ambientes, der Traumwelt, in der sie spielen – zeichneten sich aus durch Bescheidenheit, Selbstbeherrschung, ja Selbstüberwindung. Das Bewußtsein vom menschlichen Nichtwissen lasse ihn bescheiden sein und dem Willen Gottes ergeben. Dies machte der Referent an zwei Gedichten mit einer die Lebensbezüge Eichendorffs einbeziehenden Interpretation deutlich, am »Abschied« (O Täler weit, o Höhen) und »Dank« (Mein Gott, dir sag ich Dank).
Das Besondere der diesjährigen Gedenkveranstaltung war die Anwesenheit des früheren Bayerischen Arbeits- und Sozialministers Dr. Gebhard Glück, der zusammen mit dem Direktor des Münchner Haus des Deutschen Ostens (HDO) Dr. Horst Kühnel nach Lubowitz gekommen war. Herr Dr. Glück hatte bei seinem ersten Besuch in Oberschlesien und Lubowitz im Jahr 1990 gewissermaßen den Grund für das jetzige Kultur- und Begegnungszentrum gelegt, indem er Mittel für den Ankauf des Grundstücks und für den Umbau des darauf befindlichen alten Gasthauses zur Verfügung stellte. In seiner Ansprache erinnerte er daran und überbrachte im übrigen die Grüße seiner Amtsnachfolgerin, die wegen einer gleichzeitig stattfindenden Klausurtagung des bayerischen Kabinetts an der Gedenkfeier nicht selbst teilnehmen konnte. An ihrer Stelle übergaben Herr Dr. Glück und Herr Dr. Kühnel zwei Gastgeschenke: eine verbesserte Neuauflage der erstmals 1993 herausgekommenen (ebenfalls vom Freistaat Bayern finanzierten) zweisprachigen, deutsch-polnischen Eichendorff-Biographie »Ein Lebensbild – Obraz zycia« und die Finanzierungszusage für ein im Haus nachzurüstendes Sicherungssystem. An den Kosten der Schrift beteiligte sich diesmal auch das Bayerische Kultusministerium.
Das »Lebensbild« Eichendorffs ist als Veröffentlichung der Stiftung Kulturwerk Schlesien im Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn erschienen und in geringer Stückzahl auch von dort zu beziehen. Der größte Teil der Schrift ist jedoch dafür bestimmt, die Erinnerung an den Dichter und dessen Werk in seiner Heimat wachzuhalten. Zu diesem Zweck gehen etwa 1.000 Exemplare an Erzbischof Nossol von Oppeln zur Verteilung an die Geistlichen seiner Diözese und etwa ebenso viele an die Schulkuratorien in Oppeln und Kattowitz für die höheren Schulen mit bilingualen deutsch-polnischen Zügen sowie die Deutschlehrer-Kollegs in diesen Woiwodschaften. Ca. 2.000 Exemplare werden dem Eichendorff-Kultur- und -Begegnungszentrum Lubowitz zum Verkauf an interessierte Besucher zur Verfügung gestellt; aus den Erlösen sollen die kulturellen Aktivitäten des Hauses unterstützt werden.
Als Initiator und »Organisator« der Schrift fiel es mir zu, sie kurz vorzustellen. Von der Erstauflage unterscheidet sie sich durch
Am auffälligsten ist das farbige Jugendbildnis des Dichters auf der Titelseite, ein 1899 entstandenes Ölgemälde des beliebten Bonner Portraitmalers Krupa-Krupinski. Das Bild gehörte ursprünglich zur Sammlung des Dichter-Enkels Karl Freiherr von Eichendorff in Altenbeuern bei Rosenheim und wurde mit dieser Sammlung in das 1935 in Neisse errichtete Deutsche Eichendorff-Museum überführt, mit dessen Zerstörung am Ende des Zweiten Weltkriegs es vermutlich unterging. Als Vorlage für dieses Bild diente eine Miniatur des im schlesischen Deutsch Wartenberg, Kreis Grünberg, geborenen Malers Karl Josef Raabe, der von Goethe geschätzt und gefördert wurde. Der 21jährige Eichendorff hat sich von ihm Anfang November 1809 in Breslau für seine Braut »als schwarzer Ritter mit goldner Kette u. Stickerei« malen lassen. Die Vorlage zu dem früheren Titelbild, eine Daguerreotypie des Dichters aus seinem letzten Lebensjahr, ist jetzt passender auf der Umschlagrückseite plaziert – zusammen mit der im gleichen Jahr entstandenen »Wünschelrute« (Schläft ein Lied in allen Dingen).
Von den ursprünglich zwölf Ansichten im Innern der Schrift wurden sieben beibehalten und ebenso viele neue kamen hinzu. Die Bilder sind jetzt besser auf die wichtigsten Lebensstationen Eichendorffs verteilt. Auf die Schloßruine in Lubowitz und die Allee im Schloßpark (besser bekannt als der Weg zum Hasengarten) folgen Ansichten des heimatlichen St. Annabergs und des ehemaligen Familienbesitzes Schloß Tost auf der rechten Oderseite; an die Schul- und Studienzeit erinnern das St. Josephskonvikt in Breslau, der Marktplatz von Halle, das Schloß zu Heidelberg und der Stephansdom in Wien; den beruflichen Weg markieren Bilder vom Langen Markt in Danzig und vom Brandenburger Tor in Berlin; die Marienburg bei Danzig und der Kölner Dom stehen für Eichendorffs Bemühen um Wiederherstellung bzw. Vollendung dieser Bauten; den Schluß bilden eine nahezu im ursprünglichen Zustand erhalten gebliebene Partie vom Ring im oberschlesischen Neisse, wo Eichendorff den Lebensabend verbrachte, und der Blick auf sein Grab im Jerusalemer Friedhof dieser Stadt. Diese Graphiken in Tusch-Aquarell-Technik (und weitere elf nicht berücksichtigte) stammen von dem im oberschlesischen Industrierevier bei Beuthen aufgewachsenen, seit zehn Jahren in einem Vorort von Düsseldorf tätigen Diplomingenieur und Architekten Marius Schlesiona; er hat sie von Reisen auf Eichendorffs Spuren mitgebracht und im Original der Lubowitzer Begegnungsstätte geschenkt, wo sie gerahmt und hinter Glas die Zimmer schmücken.
An der mit viel pädagogischem Einfühlungsvermögen flüssig und spannend geschriebenen Eichendorff-Biographie gab es bei der jetzigen Neuauflage kaum etwas zu verbessern. Der Autor Dr. Volkmar Stein ist ein über Eichendorff promovierter Gymnasiallehrer, Stadtverordneter und Pressereferent der südhessischen Stadt Büdingen und war eine Zeitlang auch Geschäftsführer der Eichendorff-Gesellschaft. Den biographischen Text hat Frau Dr. Ewa Pietrzak übersetzt, eine im Nachkriegs-Breslau geborene, lange Jahre am Institut für Germanische Philologie der Universität Breslau und neuerdings an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg tätige Wissenschaft-
lerin.
Die Gedichte im Anhang der Schrift und in den Texten davor hat der renommierte Literaturkritiker und Übersetzer vieler Werke der klassischen und modernen deutschen Literatur Jacek St. Buras unter Beachtung von Versmaß und Reim neu übersetzt. Dieser Arbeit ging eine Übersetzung der Novelle »Aus dem Leben eines Taugenichts« voraus, bei der er tiefe Einsichten in die Kunst Eichendorffs gewann. Seit über drei Jahren leitet Herr Buras das Polnische Institut Wien. Auf seine Empfehlung wurde beim »Morgengebet« auf die Übersetzung der polnischen Lyrikerin Kazimiera Illakowiczówna zurückgegriffen, die von 1892 bis 1983 lebte und auch einige Zeit Sekretärin des polnischen Marschalls und Politikers Józef Pilsudski war. Bei dem berühmten Gedicht »Weihnachten« kam die einfühlsame Übersetzung von Tomasz Horak zum Zug, eines in Oberschlesien aufgewachsenen Ostpolen und jetzigen Pfarrers einer Kirchengemeinde in der Nähe von Neisse. Den zu Volksliedern gewordenen Gedichten »Der frohe Wandersmann«, »Abschied«, »Das zerbrochene Ringlein« und dem »Dryander« (Mich brennts in meinen Reiseschuhn) sind auch Noten unterlegt.
Das Vorwort zu der Schrift hat Prof. Frühwald verfaßt, der einige Jahre Präsident der Eichendorff-Gesellschaft und Mitherausgeber ihres Jahrbuchs »Aurora« war und Autor einer bislang unübertroffenen »Eichendorff-Chronik« ist. Darin knüpft er an seinen ersten Besuch in Lubowitz vor 18 Jahren an, als in Polen Kriegsrecht herrschte und die Ruine des alten Herrenhauses noch wie ein verwunschenes Märchenschloß hinter dichtem Unterholz verborgen lag. Er zieht Verbindungen zu zwei anderen heimatlosen Dichtern, zum Begründer der polnischen Romantik Adam Mickiewicz, der mit seinem Leben und Werk das Bewußtsein nationaler Zusammengehörigkeit im polnischen Volk stärkte, und zu Heinrich Heine, »dessen Herz am frühesten für Polen schlug«. In dem Umstand, daß das in Ratibor wiedererrichtete Eichendorff-Denkmal an einer nach Mickiewicz benannten Straße steht, sieht Prof. Frühwald »fast ein europäisches Zeichen«, und er freut sich darüber, daß Lubowitz »aus einem Ort des Vergessens ... zu einer Stätte der Erinnerung und der Versöhnung« geworden ist. Seine Gedanken klingen aus mit den verheißungsvollen Versen des Eichendorff-Gedichts »Schöne Fremde«: