Ungläubig / suchte und suchte ich –
auch hinter den Wörtern, / den besten aller Wörter.
Das alles lasse ich nun / hinter mir.
Bedingungslos / wende ich mich an einen Morgen,
auf dem kein Gestern liegt.
So endet das Gedicht »Zurücklassen« von Heinz Piontek aus der 1998 im Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn Würzburg unter dem Titel »Neue Umlaufbahn« erschienenen Gedichtsammlung; als Motto ist dem Buch der Bibelvers »Suche Frieden und jage ihm nach« vorangestellt. Vor acht Jahren hat der Dichter von allen irdischen Dingen ablassen müssen und seinen Frieden gefunden. Am 9. September 2011 ist ihm sein Schulkamerad aus gemeinsamen Kreuzburger Vorkriegstagen, der renommierte Historiker Horst Fuhrmann, im Alter von 85 Jahren gefolgt; gesundheitsbedingt hatte er sich in den letzten Jahren schon weitgehend aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Das von ihm bearbeitete Forschungsfeld war die Geschichte des Mittelalters; sein besonderes Interesse galt der Entstehung mittelalterlicher Rechtsquellen und ihren Fälschungen.
Horst Fuhrmann war wie Piontek ein Meister wohlgesetzter Worte, einer geschliffenen Sprache. Mit seinen Publikationen fand er nicht nur in der wissenschaftlichen Fachwelt Beachtung sondern wußte auch eine breite Öffentlichkeit anzusprechen, etwa mit den Büchern »Deutsche Geschichte im hohen Mittelalter«, »Einladung ins Mittelalter«, »Überall ist Mittelalter« oder »Die Päpste – von Petrus zu Benedikt XVI.«; außerdem war er ein fesselnder Redner. Besucher der Feierlichen Jahressitzungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Herkulessaal der Münchner Residenz werden sich mit Vergnügen seiner »Auftritte« als Präsident dieser altehrwürdigen Institution erinnern. Er machte dabei keinen Hehl aus seiner oberschlesischen Herkunft – »fern von gebildeten Menschen …«, wie ein von ihm gern schalkhaft zitiertes Wort Goethes über die im Jahr 1790 (im Anschluß an dessen zweite Italienreise) besuchte Region »am Ende des Reiches« lautet. Ein andermal gefiel es ihm, besagtes Diktum durch die Hervorhebung eines gleichfalls aus Kreuzburg stammenden Ehrengastes der Veranstaltung, des Rektors der Universität Breslau (Roman Duda), zu karikieren. Im übrigen diente ihm das Goethe-Wort mit dem Zusatz »Eine oberschlesische Kleinstadt um 1870« als Titel eines Buches über seinen Geburtsort.
Wer den Verstorbenen nicht kannte, dem erschließt sich sein Rang in der Welt der Wissenschaft durch einen Blick auf die Todesanzeige/-nachricht. Darin steht unter dem Vers des unvergleichlichen »Mondnacht«-Gedichts von Eichendorff – Und meine Seele spannte / weit ihre Flügel aus, / flog durch die stillen Lande, / als flöge sie nach Haus – zu lesen:
Horst Fuhrmann
* 22. Juni 1926 † 9. September 2011
Dr. phil., Dr. h.c. mult.
Em. o. Professor der Geschichte
Ehemaliger Präsident der Monumenta Germaniae Historica
und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Träger des Bayerischen Maximiliansordens für Wissenschaft
und Kunst
und des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern
Träger des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste.
Die Trauerfeier fand am 16. September 2011 in der Pfarrkirche Zum Hl. Abendmahl in Wörthsee statt, wo Horst Fuhrmann mit seiner Frau, einer promovierten Juristin, zu Hause war. In dem hoch über dem Wörthsee gelegenen modernen Kirchenbau hatten sich die Angehörigen des Verstorbenen und ein illustrer Kreis von ehemaligen Kollegen und Schülern, von Freunden, Bekannten und Nachbarn eingefunden, um ihm das letzte Geleit zu geben. Die Trauerfeier hielt der evangelische Pfarrer Christoph Breit – umrahmt vom Würmtal-Quartett mit Stücken von Haydn, Mozart und Mendelssohn-Bartholdy; unter anderem waren zu hören: Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze, ein Satz aus dem Dissonanzenquartett und das Engelterzett. Die Lebensstationen und Leistungen des Verstorbenen wurden durch den Vizekanzler des Ordens Pour le mérite, Prof. Hubertus von Pilgrim, den Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica, Prof. Rudolf Schieffer und den Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Prof. Karl-Heinz Hoffmann, vergegenwärtigt.
Horst Fuhrmann gehörte dem Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste 25 Jahre an und war fünf Jahre deren Vizekanzler. Die mit der Verleihung des Ordenszeichens einhergehende Mitgliedschaft im Orden gilt in Deutschland als eine der höchsten Ehrungen, die einem Wissenschaftler oder Künstler zuteil werden kann. Der Verstorbene hat sich mit seinen Laudationes und Nekrologen für neue bzw. auf verstorbene Mitglieder und mit seinen Vorträgen hohe Wertschätzung erworben; bleibende Verdienste um das Selbstverständnis und die Bewußtseinsschärfung der Ordensgemeinschaft trug ihm der Essay »Über die Sichtbarmachung von Verdiensten. Eine historische Besinnung« ein. Besonders bewundert wurden die Treffsicherheit seines Urteils und die stilistische Kunstfertigkeit, sehr viel mit wenigen Worten auszudrücken.
46 Jahre, von 1965 bis zu seinem Tod, hat Horst Fuhrmann der Zentralredaktion der Monumenta Germaniae Historica in München angehört, dem Institut zur Erforschung der mittelalterlichen Geschichte Deutschlands anhand einschlägiger Quellentexte; die Hälfte jener Zeit, von 1971 bis 1994, war er Leiter dieser Einrichtung – und damit länger als jeder seiner zehn Amtsvorgänger seit 1875. Er brachte das Institut im wesentlichen auf den heutigen Personalstand, nutzte die Chance der Wiedervereinigung und erreichte, daß in (Ost-)Berlin eine relativ große Arbeitsstelle erhalten blieb und in Leipzig eine neue eingerichtet wurde; darüber hinaus erneuerte und verstärkte er die Zusammenarbeit mit den Akademien des deutschen Sprachraums. Dies kam den Editionsvorhaben und Publikationen der Monumenta zugute, die im Durchschnitt der 1990er Jahre auf das Doppelte bis Dreifache der 1960er Jahre gesteigert werden konnten. Einen Höhepunkt seiner Amtszeit bildete 1986 – als er gerade 60 geworden war – der in München mit starker internationaler Beteiligung veranstaltete Kongreß über »Fälschungen im Mittelalter«. In jungen Jahren hatte er mit einer Arbeit über die Pseudoisidorischen Fälschungen des neunten Jahrhunderts (seiner Habilitationsschrift) aufhorchen lassen und sich später eingehend mit der dem römischen Kaiser Konstantin dem Großen zugeschriebenen berühmt-berüchtigten Konstantinischen Schenkung und ihrer Falsifikation befaßt.
Zum Werdegang Horst Fuhrmanns bleibt nachzutragen: Mütter- und väterlicherseits aus bäuerlichen Verhältnissen stammend, war er sich erstaunlicherweise schon als Schüler seiner Fähigkeiten so bewußt, daß er den Übertritt aufs Gymnasium selbst betrieben hat. Nach Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft holte er das Abitur nach und studierte an der Universität Kiel Rechtswissenschaft, Geschichte und Klassische Philologie; in Kiel promovierte er mit einer preisgekrönten Arbeit und habilitierte sich auch. Zwischendurch legte er noch das 1. Staatsexamen für das höhere Lehramt an Gymnasien in den Fächern Geschichte und Latein ab. 1962 wurde er auf den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität Tübingen berufen. Von 1971 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1993 hatte er – parallel zu seiner Präsidentschaft bei den Monumenta Germaniae Historica – das Ordinariat für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Regensburg inne.
Seit 1974 war Horst Fuhrmann ordentliches Mitglied der Philosophisch-historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; von 1992 bis 1997 trug er die Amtskette des Präsidenten dieser seit 1759 bestehenden Einrichtung und damit die Verantwortung für viele wegweisende Entscheidungen – auch und gerade im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung. In den beiden letzten Jahren dieser Periode saß er darüber hinaus der Konferenz der acht deutschen Wissenschaftsakademien vor. In dieser Eigenschaft erwarb er sich große Verdienste um deren (zum 1.1.1999 erfolgten) Zusammenschluß zur »Union der deutschen Akademien der Wissenschaften« sowie für das Akademienprogramm, ein von Bund und Ländern gemeinsam finanziertes Programm zur Förderung langfristig angelegter Forschungsvorhaben in den Geistes- und Naturwissenschaften.
In der »Ahnengalerie« der Akademie hängt ein Portrait des Präsidenten Horst Fuhrmann, das 1999 auf besonderen Wunsch des zu Portraitierenden von dem dazumal bereits 88jährigen Bruno Lenz gemalt wurde; es zeigt ihn treffend, wie er war: elegant, freundlich, diskussionsbereit.
Zuletzt ergriff Pfarrer Breit das Wort und stellte zur Verblüffung der Trauergemeinde die Frage: »Was hätte aus Horst Fuhrmann nicht alles werden können? Was aus ihm geworden ist – einer der brillantesten Köpfe Deutschlands, Historiker von Weltrang – haben wir gehört.« Damit kam er auf die private, intimere Seite seiner Biographie zu sprechen, auf das, was der Verstorbene nicht geworden ist. Wäre der Krieg nicht ausgebrochen und er und seine Familie im beschaulichen Umfeld der schlesischen Heimat geblieben, wäre er wahrscheinlich Automechaniker geworden, wie er es einmal erzählt hat. Wäre sein jugendliches Hobby Segelfliegen nach dem Krieg erlaubt gewesen, wäre er vielleicht Flugzeugingenieur geworden. Wäre seine Einheit, die zur Verteidigung Berlins abgestellte »Armee Wenck«, in den letzten Kriegstagen nicht gegen den Befehl nach Westen geschwenkt und in amerikanische bzw. englische Gefangenschaft geraten – hätte er dann den Krieg überhaupt überlebt? Er hätte auch auf den Wunsch der Mutter hören und Studienrat an einer Schule werden können; sie hat es nie verstanden, wie man davon leben kann, ab frühmorgens am Schreibtisch zu sitzen und alte Papiere zu studieren. Und hätte er den Ratschlag des Vaters, eines Eisenbahners, beherzigt, dann wäre er bei der Juristerei geblieben, die er angefangen hatte zu studieren, denn sein Vater lag ihm immer in den Ohren mit »Studiere Jurisprudenz, da kannst du alles werden, sogar Reichsbahnrat«. Das Jurastudium konnte er indessen ohne Schaden abbrechen, weil seine spätere Frau dieses Fach zu Ende studiert (und darin sogar promoviert) hat.
Gustav Freytag, der ebenfalls in Kreuzburg gebürtige große schlesische Schriftsteller (zu dessen Anverwandten Heinz Piontek sich zählte), hat in der virtuosen Vielseitigkeit des Schlesiers sogar eine Eigenart des Volksstammes ausgemacht. In seinem monumentalen Werk »Bilder aus der deutschen Vergangenheit« charakterisiert er den Schlesier folgendermaßen: »Alles, was man auf Erden werden kann, wird der Schlesier mit Leichtigkeit: Engländer und Russe, Minister und Seiltänzer, … fromm und gottlos, reich und arm. Am liebsten wird er allerdings Poet [»und Historiker«, wie man hinzufügen könnte], weil ihm das die Einseitigkeit erspart, irgendetwas Spezielles zu werden.«
Auf den Trauergottesdienst folgte die Beerdigung auf dem nahe der Kirche gelegenen Friedhof an der Kuckuckstraße. Eine unübersehbare Zahl von Kränzen, Buketts und Blumenschalen säumte das ausgehobene Grab. Wie aus den angebrachten Schleifen zu ersehen war, kam der Grabschmuck von den vorgenannten Institutionen, denen er seinen Stempel aufgedrückt hat, sowie vom Bayerischen Ministerpräsidenten, vom Historischen Kolleg (dessen Kuratorium Horst Fuhrmann seit Gründung des Kollegs im Jahr 1978 angehörte und 13 Jahre lang vorstand), von der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, der Gemeinde Wörthsee, von Verlagen, Freunden, Bekannten, Nachbarn und nicht zuletzt von den »dankbaren Schülern« des »verehrten Doktor-Vaters«. Mit einem der anwesenden »Schüler«, einem Ruheständler aus Stuttgart, bin ich nach dem Begräbnis ins Gespräch gekommen; er gab ein beredtes Zeugnis davon, welch hochgeschätzter und verständnisvoller akademischer Lehrer der Verstorbene bei all seinen wissenschaftlichen Meriten war.
Das nebenstehende Foto des bereits geschlossenen Grabes im bunten Kranz- und Blumenschmuck – darunter der an der weiß-blauen Schleife erkennbare Kranz des Bayerischen Ministerpräsidenten – habe ich von ihm erhalten.
Gerade in einem Artikel für eine auf Schlesien bezogene Zeitschrift sollte nicht unerwähnt bleiben, daß Horst Fuhrmann neben zahlreichen wissenschaftlichen Preisen, Ehrendoktoraten und Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Akademien – national wie international – bereits 1990 den Oberschlesischen Kulturpreis des Landes Nordrhein-Westfalen und 2003 den Kulturpreis des Landes Niedersachsen verliehen bekam (bei jenem Land liegt bekanntlich die Schirmherrschaft für die Schlesier). Ebenfalls im Jahr 2003, zur 750. Wiederkehr der Gründung seiner Heimatstadt, deren lange verschollene Gründungsurkunde ihm aufzuspüren vergönnt war, wurde er vom Bürgermeister und Rat der Stadt, die heute Kluczbork heißt, in Anerkennung seiner wissenschaftlichen Arbeit mit einem Diplom als »Botschafter Kreuzburgs im In- und Ausland« ausgezeichnet.
Zwei Jahre später war Horst Fuhrmann – zusammen mit seiner Frau, dem Sohn und der Tochter – abermals in Kreuzburg, um der Familie zu zeigen, wo er aufgewachsen ist. In einer Broschüre mit dem Titel »Ausflug in eine ferne Zeit« hat er darüber berichtet und eine auf der Internetseite des Ordens pour le mérite (unter www.orden-pourlemerite.de und seinem Namen) nachzulesende Rede »Schlesien – Śląsk – eine private Einlassung« gehalten. Im Sommer 2007 ist das Ehepaar Fuhrmann ein letztes Mal in Schlesien gewesen, diesmal mit Schwerpunkt Lubowitz. Der äußere Anlaß für diese Reise war eine im Gedenken an Eichendorffs 150. Todestag in jenem Jahr angesetzte szenische Aufführung seines »Taugenichts« im Schloßpark von Lubowitz und die Einweihung einer mit dem Dichter in Verbindung gebrachten Wassermühle »in einem kühlen Grunde« ganz in der Nähe; die Eindrücke dieser Reise sind wiederum in einer lesenswerten Schrift festgehalten.
Geben wir zum Schluß noch einmal Heinz Piontek das Wort, über den Horst Fuhrmann gern schmunzelnd erzählte, daß seine Aufsätze in der Regel ein ganzes Schulhefte füllten, während er nicht über einen Doppelbogen hinauskam. Hier sein Gedicht »Mój Boże kochany«, zu Deutsch »Mein lieber Gott«:
Dankbar werden wir, / bald oder später,
in deine Fußstapfen treten,
wenn sie unversehens vor uns aufschimmern,
als Spur immer weiter vorauslaufen / durch das Unabsehbare,
und auch das Unabsehbare / wollen wir dann
so wenig zu fürchten versuchen / wie du.
Wie du.
Erschienen in:
»Schlesischer Kulturspiegel« 4/2011 der Stiftung Kulturwerk Schlesien, Würzburg.
»Hefte für Kultur und Bildung« 1/2012, Nr. 74 des Joseph von Eichendorff-Konversatoriums in Oppeln (zweisprachig deutsch und polnisch)