Der im oberschlesischen Kreuzburg geborene und zur Schule gegangene Historiker Horst Fuhrmann hat im Juni 2003 als Ehrengast an der 750-Jahr-Feier der Stadt teilgenommen und darüber sowie vom Wiedersehen mit seiner Heimatstadt in einem Brief an Schulfreunde berichtet. Mit seinem Einverständnis habe ich den (handgeschriebenen) Text für eine Veröffentlichung in der Zeitschrift »Schlesien heute« aufbereitet und damit einem größeren Leserkreis zugänglich gemacht. Die Schilderung Horst Fuhrmanns stellt eine reizvolle Ergänzung der mehr oder weniger unpersönlichen Berichterstattungen über dieses Ereignis dar. Der hochdekorierte Wissenschaftler war zuletzt Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und ist u.a. Träger des Oberschlesischen Kulturpreises des Landes Nordrhein-Westfalen (1990) und des Kulturpreises Schlesien des Landes Niedersachsen (2003).
Liebe Freunde,
voll von Kreuzburgischem drängt es mich, Euch von der 750-Jahr-Feier zu erzählen, zu der ich hingefahren bin. Aufmerksame Leser der Kreuzburger Nachrichten wissen, daß die Feier auf den 13. und 14. Juni 2003 angesetzt worden ist, obwohl die Urkunde (eine Doppelausfertigung) auf den 26. Februar 1253 datiert ist. Zunächst: Kreuzburg liegt wirklich »fern von gebildeten Menschen«1 . Die Fahrt am 12. Juni: 4.40 h (München) bis 19.26 h (Kluczbork). Ein polnischer Kollege verkürzte die Qual und holte mich von Breslau/Hauptbahnhof (Wroclaw Glowny) ab. Freilich wohnte er am Südabhang des Annabergs in Leschnitz (Lesnica), 80 km von Kreuzburg entfernt, aber ich hatte einen kundigen Führer und Dolmetsch. Es war mir ein niederschmetterndes Erlebnis, daß ich mit meinem bißchen Wasserpolnisch so gut wie nichts anfangen konnte (nie rozumien).
Die persönliche Einladung des Bürgermeisters Kielar (42 Jahre alt) galt besonders für den 14. Juni, am 13. waren u.a. historische Vorträge. Sie fanden (von 12 bis 16 Uhr) in der Aula unserer Schule statt, die ja erst 1926 Gustav-Freytag-Gymnasium hieß, nachdem die bis dahin in dem Gebäude untergebrachte Präparanden-Anstalt aufgelöst und der Schulbetrieb von der Oppelner Straße (künftig Mädchenlyzeum) hierher verlegt worden war. Heute heißt die Schule Adam-Mickiewicz-Lyzeum. An Gustav Freytag erinnert hier nichts mehr, auch das Geburtshaus zeigt keinen Hinweis. Vor dem Gymnasium (bei Draufsicht links) steht eine monumentale Mickiewicz-Statue. »Mickiewicz (1798-1855), das ist unser Goethe«, belehrte mich ein Pole vor dem Monument. Der Eingang zur Schule ist flaggengeschmückt. Der Portraitkopf Gustav Freytags im oberen Feld ist rausgeschlagen.
Von den vier Vorträgen war nur der deutsche, gehalten von Peter Klotz (Vorsitzender des Heimatkreisverbandes, »adoptierter« Kreuzburger), sachgerecht und für mich verständlich. Der Text wurde von einem in der Nachbarstadt Konstadt (Wolczyn) verbliebenen Deutschen, der für Polen optiert hatte, abschnittsweise ins Polnische übersetzt. Ort des Geschehens: Unsere Aula, bei der der große Orgelprospekt am Ende fehlte, so daß der Raum einen ärmlichen Eindruck machte.
Der nächste Tag (14. Juni), Samstag, der eigentliche Jubeltag, begann mit Blasmusik und einer Messe in der berstend vollen katholischen Kirche an der Oppelner Straße. Ab 11 Uhr war der zentrale Festakt. Vor den Rathausarkaden war eine große Bühne aufgebaut mit einem stilisierten Prospekt der Stadt und der Überschrift »750 lat Kluczborka« (750 Jahre Kreuzburg). Nach vielen Reden und Gratulationen (Wojewode, Vizewojewode, Starost usw.) grüßten verschiedene Stadtvertretungen (Brzeany, woher viele Einwohner Kreuzburgs nach 1945 kamen, und die Partnerstadt Bad Dürkheim, die 1000 Flaschen Wein mitbrachte), darunter auch die Alt-Kreuzburger; Klotz überreichte einen ziselierten Teller.
Unter den vielen Darbietungen war zentral eine Folge gestellter Szenen. Man rief »Große Gestalten Kreuzburgs« auf, ein Gang durch die Geschichte, der mit der Verkündung der Urkunde von 1253 begann. Getragen wurde das von einer Jugendgruppe, die mit Späßen das ganze aufzulockern suchte. Die Folge hatte vier Figuren. Es begann mit Jan von Kreuzburg, einem Theologen, der zu hohen akademischen Ehren kam, Professor zu Krakau und Prag war. Von ihm ist noch eine ganze Reihe ungedruckter Schriften vorhanden. Jede dieser Figuren kam in einer Art Talar daher und stellte sich vor. Hier also Jan von Kreuzburg aus dem 14. Jahrhundert. Der nächste war Adam Gdacius, geboren und gestorben in Kreuzburg (1615-1688), ab 1646 Pastor an der evangelischen Kirche. Er veröffentlichte fast alle Schriften auf Polnisch oder Latein. Er trat dafür ein, das Wasserpolnische als eigenes Idiom, nicht als verkommene Hochsprache, zu begreifen.
Die nächste Figur hat für uns einen besonderen Reiz. Es ist Gustav Freytag, der immer wieder – meist in Andeutungen – seine Verachtung gegenüber den Polen ausgedrückt hat: »Wir und die Slawen, es ist ein alter Kampf. Und mit Stolz empfinden wir, auf unserer Seite ist die Bildung, die Arbeitslust, der Kredit«. Fontane applaudierte: »Das alles ist nicht nur Labsal für ein deutsches und preußisches Herz, es ist auch ebenso wahr, wie es schön ist. Die Polenwirtschaft ist durch sich selbst dem Untergang geweiht.« Noch heute singen die Rekruten der polnischen Armee in der dritten Strophe der Nationalhymne 2 »Der Deutsche hat uns nicht ins Gesicht zu spucken und unsere Kinder zu germanisieren«. Und jetzt Gustav Freytag als eine der vier größten Gestalten aus der Geschichte Kreuzburgs – man bedenke: der polnischen Geschichte! Ich empfinde dies als einen bemerkenswerten Umbruch des Verhältnisses der Polen zu uns. Zwar war der Freytag darstellende Jüngling von bezopfter Zartheit, aber Gustav Freytag war da!
Die vierte, abschließende Gestalt war Johannes Dzierzon (1811-1906), Pfarrer aus Lowkowitz bei Kreuzburg, der die Parthenogenesis (d.h. die Jungfernzeugung) der Bienen entdeckt hat und von sich sagte, er sei Pole von Geburt, aber der Erziehung nach Deutscher. Eine weiß gekleidete Dame kündete vom Ruhm Dzierzons. Die vier »Großgestalten« nahmen in ihrer Kluft vor der Bühne Platz.
Anschließend – nach der »Gestaltenschau« – kam die, wie es im Programm heißt, »Auszeichnung der Ehrenbürger und anderen Leute mit der Jubiläumsmedaille«. Gott läßt die Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte, und so bekam auch ich eine Jubiläumsmedaille (aus Bronze) und ein Ehrendiplom, dessen Text ich besonders loben muß. Es ist kein Pauschaltext,
sondern auf mich als Empfänger abgestimmt (za prac naukow = für wissenschaftliche Arbeiten), und ich bin Botschafter Kreuzburgs (ambasadorami Kluczborka). Aus der Übersetzung, die ich mir hier habe anfertigen lassen, glaubt man die Eleganz des präzisen Ausdrucks zu spüren.
Insgesamt: Die Polen begreifen ihre Geschichte teilweise als deutsche Geschichte. In fast allen Reden spielte der EU-Beitritt Polens eine Rolle. Kreuzburg – unsere Stadt? Sie ist stark bis total verändert. Die Zahl der Einwohner hat sich mehr als verdoppelt, von 13.000 auf 27.000. Ein großes Industriewerk ist angesiedelt: »Famak«; es baut Kräne und Hebewerke. Ganze Stadtteile kamen hinzu, im Norden mit eigener Großkirche, starke Ausdehnung der Siedlung nach Westen (mit großem Hallenbad). Sucht Eure Straße (eine Karte mit den jetzigen polnischen Straßennamen ist beigefügt), z.B. die Düringstraße! Nicht einfach.
Do widzenia – Auf Wiederseh’ n!
1) wie Goethe in einem 1790 auf seiner Reise durch Oberschlesien entstandenen Epigramm festhielt
2) Gemeint ist die von Maria Konopnicka 1908 gedichtete und von Feliks Nowowiejski zwei Jahre später vertonte Hymne namens »Rota« (Eidesformel), die 1910, bei der Enthüllung des Grunwald(Tannenberg)-Denkmals in Krakau, erstmals gesungen wurde.
Erschienen in:
»SCHLESIEN HEUTE« 8/2003, Senfkorn-Verlag A. Theisen, Görlitz/Schlesien