Am 6. Februar 1992 fuhren die Regensburger Domspatzen mit Domkapellmeister Prälat Georg Ratzinger auf Einladung des Zentrums für internationale Beziehungen »Azymuth« in Belgien zum 6. Weltfestival der Knabenchöre nach Posen. Gefördert wurde die Reise aus Mitteln für grenzüberschreitende Kulturarbeit des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit, Familie und Sozialordnung. Dies und die Einladung durch Bischof Alfons Nossol von Oppeln zu einem Zwischenaufenthalt in seiner von vielen Deutschen bewohnten Diözese hatte Ministerialrat Norbert Willisch vom Bayerischen Kultusministerium vermittelt, ein gebürtiger Oberschlesier, der aktiv an der Kontaktpflege zu den in Schlesien lebenden Deutschen und der Verständigung mit Polen arbeitet. Vom Geschäftsführer des Chores, Helmut Petz, war das Vorhaben zusammen mit Herrn Willisch bis ins Detail vorbereitet worden. Ihm und dem väterlichen Verhältnis des Domkapellmeisters zu seinen »Spatzen« war auch die heitere, entspannte Atmosphäre auf der Reise zu verdanken. Als Dolmetscherin und landeskundige Reisebegleiterin fuhr die aus Oberschlesien stammende Frau Ingrid Kneip mit. Die Fahrt ging zügig über Hof, Prag, Königgrätz zur tschechisch-polnischen Grenze bei Nachod. Hier schon erlebten wir eine erste freundliche Geste der polnischen Grenzbeamten: Sie lotsten den Bus auf eine freie Spur, und die Formalitäten waren in Minuten erledigt.
Der Weg führte durch das tiefverschneite und im Nebel liegende Glatzer Bergland, vorbei an den berühmten Herzheilbädern Kudowa, Reinerz, Altheide und durch das alte Glatz mit seinen imposanten friderizianischen Festungsbauten. Hier war im 14. Jahrhundert der St. Florian-Psalter entstanden, eine bemerkenswerte Handschrift in lateinischer, deutscher und polnischer Sprache. Weiter fuhren wir nach Neisse, dem »schlesischen Rom«, das zu den ältesten Städten in Schlesien mit den meisten Kulturdenkmälern zählte, deren Pracht man heute allerdings nicht mehr wiederfindet, da die historische Innenstadt im Frühjahr 1945 ein Raub der Flammen wurde. Auf dem Friedhof, direkt an der Durchgangsstraße, liegt Joseph Freiherr von Eichendorff begraben, der große oberschlesische Dichter, dessen Texte in der Vertonung von Felix Mendelssohn-Bartholdy, Franz Biebl und Friedrich Glück zum »Reisegepäck« der Domspatzen gehörten.
In einem kurzen geschichtlichen Exkurs erfuhren die Domspatzen auf der Weiterfahrt nach Oppeln einiges über die deutsche Besiedlung Schlesiens im 12./13. Jahrhundert und den Verlust dieses Gebietes als Folge des Zweiten Weltkriegs, aber auch zur Geschichte des polnischen Staates, von den Anfängen im 10. Jh., der Umwandlung von einer Monarchie in eine Adelsrepublik im 16. Jh. und vom Verschwinden des zweitgrößten Staates in Europa infolge der drei Teilungen Polens in nur 23 Jahren (1772 - 1795); bis 1918 hatte Polen aufgehört zu existieren. Der auch heute noch vorhandene starke Patriotismus gab den Polen immer wieder die Kraft, sich gegen fremde Mächte aufzulehnen und für einen eigenen souveränen Staat zu kämpfen. Große Überraschung löste bei den Domspatzen die Verflechtung Regensburgs mit der geschichtlichen und kulturellen Entwicklung Polens aus. So nehmen manche polnische Historiker an, daß der polnische Fürst Mieszko I., der sich zum Christentum bekehrte, in Regensburg getauft wurde, da hier im Kloster St. Emmeram ein Bruder seiner Frau Dubrava, einer Christin aus Böhmen, lebte. In dem aus dem Kloster St. Emmeram stammenden »Fragmentum geographiem«, dem Werk eines anonymen bayerischen Geographen des 9. Jahrhunderts, findet sich zum ersten Mal ein Hinweis auf die in Schlesien siedelnden frühslawischen Stämme der »Opolanen« und »Slenzanen«.
Unter derlei Reflexionen und Informationen war es Abend geworden, als wir die Hauptstadt der Wojewodschaft Oppeln mit ihren ca. 120.000 Einwohnern erreichten. Über die Oderbrücke fahrend, schauten wir auf das hell erleuchtete Panorama der Stadt mit dem mächtigen Rathausturm, den Türmen des Domes und der Franziskanerkirche. Hier waren die Domspatzen Gäste des Bischofs der Diözese Oppeln, Prof. Dr. Alfons Nossol, eines gebürtigen Oberschlesiers, dem die Versöhnung der beiden Bevölkerungsgruppen seiner Diözese - den noch immer einige Hunderttausend zählenden Deutschen, die nach dem Krieg in ihrer alten Heimat geblieben sind und den dort neu heimisch gewordenen Polen - sehr am Herzen liegt. Der Chor war eingeladen, den »Ersten Diözesan-Kirchenmusiktag« vom 7./8. Februar 1992 mitzugestalten.
Untergebracht im Gästehaus des Theologisch-Pastoralen Instituts, einer Filiale der Katholischen Universität Lublin, erfuhren die Domspatzen die ganze sprichwörtliche polnische Gastfreundschaft: »Ein Gast im Hause - Gott im Haus«. Zur Begrüßung verlas der Direktor des Instituts, Prälat Dr. Helmut Sobeczko, Professor für Liturgie und Vorsitzender der Kommission für Musik in der Diözese, einen Brief des auf einer Auslandsreise weilenden Bischofs Nossol an Domkapellmeister Ratzinger und die Domspatzen, in dem er in sehr persönlichen und herzlichen Worten seine Freude über das Zustandekommen dieses Besuches ausdrückte und jegliche Unterstützung und Hilfe während des Aufenthaltes in Oppeln zusicherte. Mit unserer wörtlichen Übersetzung des Namens »Domspatzen« auf den in Regensburg gedruckten Plakaten wollte sich Prof. Sobeczko allerdings nicht einverstanden erklären. »Wir haben Sie in unseren Zeitungen als ›Lerchen‹ angekündigt, das ist viel werbewirksamer, denn Spatzen singen ja nicht, sie zwitschern höchstens.« Ob das die Domspatzen für die Zukunft einmal überdenken sollten?
Es gab keinerlei Eingewöhnungsschwierigkeiten. Das Essen schmeckte vorzüglich, und zu aller Erstaunen sprach fast jeder in diesem Haus deutsch, z.T. sogar akzentfrei, wie etwa der uns betreuende Musikwissenschaftler und Komponist Peter-Paul Tarlinski oder der viel Herzlichkeit und Wärme ausstrahlende Weihbischof Dr. Gerard Kusz. In der Küche konnte man neben Polnisch und Deutsch auch den lupenreinen schlesischen Dialekt hören. Die uns betreuenden Mädchen wechselten je nach Bedarf die Sprache. Eingedeckt mit Postkarten und Informationsmaterial über Oppeln, bezogen die meisten Domspatzen schon bald ihr Nachtquartier. Am nächsten Morgen erwartete sie ein harter Arbeitstag.
Freitag, den 7. Februar 1992, begannen gleich nach dem Frühstück die Proben für das abendliche Konzert in der Josef-Elsner-Philharmonie in Oppeln. Josef Elsner, Komponist und Musikpädagoge aus dem nahen Grottkau stammend, spielte zu Anfang des 19. Jahrhunderts im Musikleben Warschaus eine bedeutende Rolle: Er gründete und leitete verschiedene Musikschulen bis hinauf zum Konservatorium und war u.a. Lehrer von Chopin. Nach zwei Stunden Probe gab es für die Sänger eine halbe Stunde Freizeit, um in dem einzigen nahegelegenen Warenhaus das polnische Angebot kennenzulernen und für die umgetauschten 10 DM = 70.000 Zloty - das sind 5% eines polnischen Durchschnittsverdienstes - ein kleines Souvenir zu erstehen. Für die meisten gab es nur eine spärliche Ausbeute, eine kleine Oppelner Keramik mit dem berühmten Streublümchenmuster, ein geschliffenes Gläschen, ein paar Noten, eine Musik-Kassette. Einem Vergleich mit unseren überfüllten Warenhäusern, ihrer bunten Werbung und ihrer Verkaufsästhetik hielt dieses einzige Warenhaus in der Krakauer Straße nicht stand.
Im Eiltempo wurde auf dem Heimweg die Stadt durchschritten und erfahren. Vorbei ging es an der Franziskanerkirche mit den berühmten Gräbern der Piastenfürsten zum Marktplatz mit den schönen spätbarocken Patrizierhäusern, die sich mit ihren typischen runden Erkern um das Rathaus gruppieren. Dieses Rathaus wurde dem florentinischen Palazzo Vecchio nachempfunden und gilt, obwohl es von seiner Architektur her so gar nicht in diese Landschaft paßt, zusammen mit dem gotischen Piastenturm aus dem 14. Jh., dem letzten Zeugen der Herrschaft dieses Geschlechts, als das Wahrzeichen der Stadt. Durch eine Seitenstraße hindurch fiel der Blick auf einen geschichtsträchtigen Hügel, von dem aus im Jahre 984 der Hl. Adalbert predigte und zum Christentum bekehrte Opolanen taufte; heute steht auf ihm die Marienkirche (»Berglkirche«) aus dem 16. Jh.. Und schließlich die Kreuzkirche, die seit der Gründung der Oppelner Diözese 1972 Bischofskirche von Oppeln ist. In der ersten christlichen Kapelle an dieser Stelle war eine Reliquie vom Hl. Kreuz verehrt worden. Aus der Verbindung dieses Symbols mit dem Piastenwappen (goldener Adler auf blauem Grund) ist das Stadtwappen von Oppeln entstanden: ein halber Adler mit einem halben Kreuz. Der heutige Kirchenbau stammt aus dem 15. Jahrhundert. Im 2. Weltkrieg stark beschädigt, wurde er wieder aufgebaut und beherbergt als größtes Heiligtum eine Ikone der Muttergottes, Hodegetria, aus dem Jahre 1470, die »Oppelner Madonna«. Hier liegt auch der letzte Oppelner Piastenfürst, Jan der Gute, begraben.
Nach einer kurzen Stellprobe vor dem Hauptaltar für den Gottesdienst am nächsten Morgen und einem stillen Gebet vor der Oppelner Madonna ging es zum Diözesanhaus zum Mittagessen. Hier begrüßte die Domspatzen unerwartet ein über 70 Jahre alter »Kollege«, Prälat Koloczek, ein ehemaliger Chorbub aus Breslau unter Domkapellmeister Blaschke (nach 1945 Kapellmeister in Köln). »Reisen wie ihr haben wir keine gemacht, aber das Singen in der Kathedrale war für uns jedesmal ein großes Erlebnis und eine große Freude«, plauderte er aus seinen Erinnerungen. Mit ein paar Liedern nach Eichendorff-Texten bedankten sich die Domspatzen bei ihm und vor allem bei dem Küchenpersonal für die vorzügliche Bewirtung. Sie geizten nicht mit Zugaben, denn die Freude und Dankbarkeit dieser einfachen Menschen ergriff auch sie.
Nach dem Mittagessen stand ein Ausflug auf den St. Annaberg auf dem Programm. Der St. Annaberg ist die größte Wallfahrtsstätte Oberschlesiens. Nur 30 km südöstlich von Oppeln entfernt, war er auch Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen Polen und Deutschen um die nach dem Ersten Weltkrieg vom neuen polnischen Staat beanspruchte Provinz. Das Wetter hatte es nicht gut mit uns gemeint. Regen und Nebel überzogen die ganze Landschaft, so daß man den 410 m hohen Berg, der sich sanft aus der Odertalebene emporhebt, nicht erkennen konnte. Der Bus hielt am Pilgerheim, und um wenigstens ein Gefühl für den »Berg der Hl. Anna« zu bekommen, erklommen wir ihn über die stark verschneiten und vereisten Wege von Osten her, sehr zur Freude der abenteuerlustigen Buben. Sie hatten sich eigentlich vorgenommen, ihren Kapellmeister hinaufzutragen, der aber lieber »seinen Engeln« vertraute, »daß sie ihn behüten« mögen - wie es in dem schönen Lied von Mendelssohn-Bartholdy heißt. In der Klosterkirche hieß uns Pater Theophil willkommen, ein Franziskaner wie aus dem Bilderbuch mit barocker Gestalt und ebensolcher Fabulierlust. Schnell hatte er mit seinen Geschichten und Legenden vom Annaberg die jungen Zuhörer in seinen Bann gezogen und führte launig kommentierend durch Kirche und Klosterrefektorium. So erfuhren die Domspatzen in knapper, aber bildreicher deutscher Sprache das Wesentliche über die Entstehungsgeschichte des Klosters, über die 300jährige Wallfahrtstradition, das Schicksal der dortigen Franziskaner, die kulturelle und politische Bedeutung des Annaberges als Wahrzeichen Oberschlesiens sowohl für die Polen als auch für die Deutschen und auch über den Versuch, durch einen sonntäglichen Gottesdienst in deutscher Sprache das Deutsche wieder in das kirchliche Leben einzuführen. Die Domspatzen verabschiedeten sich mit dem bekannten Wallfahrtslied »St. Anna voll der Gnaden«, das Domkapellmeister Ratzinger eigens für diese Konzertreise als 4-stimmigen Satz komponiert hatte.
Zu einem der Höhepunkte des Aufenthaltes in Oppeln sollte das Konzert in der Elsner-Philharmonie am Freitag abend werden, das vom Institut für Kirchenmusik organisiert wurde. Schon eine halbe Stunde vor Beginn füllte sich der Konzertsaal. Im Foyer hörte man die Menschen sowohl polnisch als auch deutsch reden. Undenkbar noch vor wenigen Jahren! Auffallend viele junge Leute waren gekommen, darunter auch Mitglieder der sechs gemischten Chöre von Oppeln und des schon recht bekannten Mädchenchores »Legenda«. In deutscher und polnischer Sprache begrüßte Herr Tarlinski den Chor und die zahlreichen Zuhörer sowie den aus München angereisten Herrn Willisch, den deutschen Generalkonsul Bruno Weber aus Breslau und seinen Kulturattaché. Das Programm umfaßte geistliche Lieder von Palestrina, Pachelbel und Mendelssohn-Bartholdy (darunter das schon genannte »Denn er hat seinen Engeln«) sowie einen bunten Strauß von Volksliedern, u.a. von Orlando di Lasso, Georg Philipp Telemann, Robert Schumann, Mendelssohn-Bartholdy, .... Mit lebhaftem Beifall wurde jede einzelne Darbietung der Domspatzen bedacht, besonders die eingestreuten Soli und Duette mit Klavierbegleitung und die zu Herzen gehenden Lieder nach Eichendorff-Texten, wie »Der frohe Wandersmann« aus dem unsterblichen »Taugenichts« und das schwermütige »In einem kühlen Grunde«. Natürlich durfte das Paradestück »Als wir jüngst in Regensburg waren« nicht fehlen. Am Schluß gab es Standing ovations!
Der »Erste Diözesan-Kirchenmusiktag« fand am Samstag, den 8. Februar 1992, vormittags seine Fortsetzung mit einem feierlichen Gottesdienst im Dom, den die Domspatzen mit Werken aus der Missa »Papae Marchelli« von Palestrina musikalisch umrahmten. In einer kurzen Ansprache - wieder in Deutsch und Polnisch - begrüßte Weihbischof G. Kusz Domkapellmeister Ratzinger mit seinem Chor und die Gläubigen in der bis auf den letzten Platz besetzten Kathedrale. Er sagte u.a.: »Die Regensburger Domspatzen kommen von der Donau an die Oder. Diese bildet streckenweise die Grenze zwischen Deutschland und Polen. Die Musik jedoch kennt keine Grenzen und bringt die Menschen einander und auch Gott näher.« Da es in den polnischen Kirchen nicht üblich ist, überschwenglich zu klatschen, setzte der Beifall erst richtig ein, als der Bischof dazu ermunterte, der empfundenen Freude den angemessenen Ausdruck zu verleihen. In der anschließenden halbstündigen Matinee sangen die Domspatzen neben geistlichen Liedern von Orlando di Lasso, Heinrich Schütz, Mendelssohn-Bartholdy, Rheinberger und Duruflé auch das »Gaude mater Poloniae«, das »St. Anna-Lied« und »Meerstern, ich dich grüße«. Beim St. Anna-Lied konnte es keinen Schlesier mehr auf seinem Sitz halten, stehend applaudierte die ganze Kirche, und man sah so manchen Besucher mit den Tränen kämpfen. Auf Wunsch des Bischofs wurde dieses Lied noch einmal als Zugabe angestimmt.
Vor der Kirche warteten anschließend viele Gläubige auf die Domspatzen, um mit ihnen in ein kleines Gespräch zu kommen. Es waren vor allem Deutsche, denen die Freude über die so selten gehörten deutschen Kirchenlieder ins Gesicht geschrieben stand. Ein alter Mann kramte lange in seinen weiten Hosentaschen und zeigte dann stolz ein altes, abgegriffenes deutsches Gebetbuch aus dem Jahre 1921 mit einer Widmung zu seiner ersten Hl. Kommunion und meinte, aus ihm würde er bis heute beten! Für die älteren Domspatzen, die sich sehr willig dem Gespräch auf dem Kirchplatz stellten, war es wohl eine ganz neue Erfahrung, daß man sie nicht nur ihrer Musik wegen ehrte, sondern daß sie diesen leidgeprüften Menschen mit ihren Liedern auch eine frohe Botschaft und neue Hoffnung brachten. An diesen Gesprächen waren meistens ältere Leute beteiligt, die deutsch sprachen. Die Jugendlichen, sowohl Polen als auch Deutsche, hatten nie Gelegenheit, in der Schule Deutsch zu lernen. Diese Sprache wurde bis vor drei Jahren an schlesischen Schulen nicht unterrichtet. Mit wieviel Eifer jedoch heute Deutsch gelernt wird, konnten einige Mitglieder des Chors bei einem abendlichen Gang durch die Stadt im Gespräch mit Jugendlichen erfahren. Deutsch zu lernen ist für sie fast zu einer Lebensnotwendigkeit geworden, und deutschen Besuchern begegnet man größtenteils freundlich und ohne Vorbehalte.
Nach dem Gottesdienst wurde Domkapellmeister G. Ratzinger zu einem Symposion im Institut für Kirchenmusik eingeladen, wo er über seine Erfahrungen als Chorleiter berichtete wie auch über Aufbau und Arbeit der Domspatzenschule, über Stimmbildung und musikalisches Programm in den einzelnen Entwicklungsphasen der jugendlichen Sänger. An diesem Erfahrungsaustausch war vor allem Msgr. K. Pawel Pszczynski interessiert, Direktor der Vereinigung der Oppelner Chöre, der sich seit längerer Zeit mit dem Gedanken trägt, in Oppeln eine Musikschule für Knaben mit angeschlossenem Internat zu gründen. Zur Zeit nehmen 350 Schüler aus Oppeln und Umgebung am Musikunterricht außerhalb der Schule teil, meistens in den Abendstunden. Unter diesen Umständen ist es unmöglich, einen kontinuierlichen Choraufbau zu betreiben. Auch ein Vertreter der »Sozial-kulturellen Gesellschaft der deutschen Minderheit« aus Vorwerk meldete sich zu Wort und dankte Herrn Ratzinger für das »wunderbare Chorerlebnis«, zugleich bat er um Überlassung der Notensätze des St. Anna-Liedes und »Meerstern, ich dich grüße«. Der 40 Mitglieder zählende deutsche Chor in Vorwerk verfügt nur über wenig Notenmaterial und deutsche Texte. Am Schluß des Erfahrungsaustausches überreichte der Direktor des Instituts Herrn Ratzinger als Dank die ersten Publikationen des Hauses, drei Bände Orgelsätze für das Diözesangesangbuch, und Msgr. K. Pszczynski verlieh ihm die Josef-Elsner-Gedenkmedaille. Solchermaßen geehrt und gewürdigt verabschiedeten sich die Domspatzen nach dem Mittagessen mit ein paar Volksliedern von dem gastfreundlichen Haus. Dann ging es weiter nach Posen.
Die Zeit der vierstündigen Busfahrt wurde sowohl als Ruhezeit als auch zu einer kleinen Lektion in polnischer Aussprache genutzt, wobei die neu erworbenen Kenntnisse beim Lesen der Orts-, Straßen- und Reklameschilder sofort angewandt werden konnten. Auch das Einüben kleiner Redewendungen, wie »Danke«, »Bitte«, »Guten Tag« u.a. bereitete vor allem den Jüngeren großen Spaß. Als wir Posen erreichten, wußten die Domspatzen auch, daß sie sich an der Wiege der polnischen Geschichte befanden, denn hier, an der mittleren Warthe, lebte der slawische Stamm der Polanen, der dem gesamten Land seinen Namen geben sollte.
Im Hotel »Poznan«, zu dem uns ein paar freundliche Polizisten mit ihren Wagen eskortierten, erwartete uns Barbara, unsere polnische Reiseleiterin, die ab jetzt jede freie Minute, selbst um Mitternacht nutzte, um uns die Geschichte ihrer Stadt begeistert und humorvoll zu erzählen. Sie hatte bald ihre »Lieblinge« ins Herz geschlossen und wurde von ihnen gern akzeptiert. Barbara, über 65 Jahre alt, hatte Deutsch als Zwangsarbeiterin gelernt und die ganzen Schrecken des Krieges in Posen miterlebt. Sie deutete manchmal zaghaft auf die Häuser, in denen Menschen gefoltert wurden und eingesperrt waren - aber immer mit der hoffnungsvollen Bitte: »Ihr werdet so etwas nie tun, ihr müßt für den Frieden leben!«
Anderntags gestalteten die Domspatzen den sonntäglichen Gottesdienst in der ältesten Kathedrale Polens, unter deren Mittelschiff nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges die Fundamente der vorromanischen Kirche (968) sowie die Gräber der ersten polnischen Herrscher, Mieszkos I. und seines Sohnes Boleslaw I. Chrobry, gefunden wurden. In der Krypta kann man auch noch die aus Stein gehauene runde Taufplattform sehen, auf der sich Mieszko nach seiner Rückkehr aus Böhmen mit seinem Hofstaat am 18. April 966 taufen ließ und damit die Christianisierung Polens einleitete.
Nach dem Gottesdienst folgte eine kurze, inhaltlich aber sehr intensive Führung durch die Altstadt von Posen, die im Krieg zu 80% zerstört und original wieder aufgebaut wurde. Daran schloß sich ein Besuch im schönsten Renaissance-Rathaus Polens mit dem im Krieg nicht beschädigten Renaissance-Gerichtssaal im l. Stock an und ein Gang über den mittelalterlich anmutenden Marktplatz mit dem Pranger und den kleinen Krämerläden unter den Laubengängen sowie ein Blick auf die herrlichen Bürgerhäuser und Adelspaläste rund um den Marktplatz. Und auch hier wieder Begegnungen mit der bayerischen Heimat: Neben den an Regensburg erinnernden gekreuzten Petrusschlüsseln im Posener Wappen war es der »Brunnen der wassertragenden Bambergerin«, der daran erinnerte, daß nach den Schwedenkriegen im 17. Jh. und nach der Pest in Großpolen im 18. Jh. viele katholische Bauern aus der Bamberger Gegend eingeladen waren, das Land zu besiedeln. Diese Eindrücke veranlaßten einige Domspatzen zur spontanen Äußerung, »Posen wäre eine ideale Partnerstadt für Regensburg«. Wir wären gerne noch länger in dieser gemütlichen Altstadt gebummelt, aber das nächste Konzert in der Franziskanerkirche um 16.00 Uhr im Rahmen des Festivals mahnte zur Rückkehr ins Hotel.
Die Franziskanerkirche aus den Jahren 1665 - 1728 mit einem herrlichen Barock-Interieur, verschwenderischen Stuckdekorationen und Malereien, mit kunstvoll geschnitztem Gestühl und zahlreichen Portraits polnischer Adeliger war zwar eiskalt (man wartete schon seit zwei Wochen auf die Kokslieferung), aber bis auf den letzten Platz besetzt. Selbst die Wiener Sängerknaben waren gekommen, was die Domspatzen zu Höchstleistungen an Konzentration und Ausdruck anspornte (wie sie später gestanden). Der polnische Direktor des Festivals, W.J. Krolopp, Leiter der Grundschule für Knabenchöre in Posen, stellte den Zuhörern die Regensburger Domspatzen mit ihrem Domkapellmeister G. Ratzinger als einen der besten Knabenchöre der Welt vor: »Ein Chor, der wie wenige auf der Welt schwierige Werke a capella singt, in der höchsten Form der Gesangskunst«. »Jubilate Deo«, »Magnificat«, »Ubi caritas et amor« und besonders das wunderschöne »Denn er hat seinen Engeln« ließen die eisige Kälte in der Kirche vergessen, erfüllten den Raum und die Herzen der Zuhörer und schafften für Augenblicke in der Reinheit dieser Kunst das Gefühl der Gottesnähe - so jedenfalls konnte man den frenetischen Beifall deuten, der erst nach einer Weile noch andauernder Konzentration der Zuschauer einsetzte.
Die Gunst der polnischen Zuhörer eroberten sich die Domspatzen vollends im vierten Teil dieses Konzerts. Als der 4-stimmige Gesang »Gaude mater Poloniae« erklang, standen plötzlich alle Menschen auf und verharrten still und aufrecht wie beim Absingen der Nationalhymne auf ihren Plätzen. Gerührt, aber ahnungslos schauten die Sänger ins Publikum, ohne die Bedeutung dieser Geste zu verstehen. »Gaude mater Poloniae« ist ein altes Lied, das schon im 13. Jh. bekannt war und später, in allen Zeiten der Unterdrückung Polens, als heimliche Hymne gesungen wurde. Bis heute steht man immer dabei auf. War es in Oppeln das St. Anna-Lied gewesen, dem die Schlesier gerührt und stehend zuhörten, so war es hier im Kernland Polens die Hymne an die so tief verehrte Muttergottes, die der polnische König Jan Kazimierz nach einem Sieg über die Schweden, 1667 zur »Königin Polens« erklärt hatte. Für Blumen und langanhaltenden Beifall bedankten sich die Sänger mit »Laudamus Domine« von Palestrina.
Auch nach diesem anstrengenden Konzert gab es für die Domspatzen kaum Zeit zum Ausruhen, denn um 20.00 Uhr war der Höhepunkt des Festivals angesagt - das Galakonzert aller am Festival teilnehmenden Knabenchöre in der Konzerthalle der Universität. Es waren 10 Chöre aus aller Welt eingeladen. Sie kamen aus Plovdiv (Bulgarien), Berlin, Regensburg, Wien, Belgien, den USA und Südafrika. Jedem Chor standen etwa 8 Minuten für seine Präsentation zur Verfügung. Es gab sehr unterschiedliche Darbietungen, darunter solche mit Sologesang, mit Klavierbegleitung, Buschtrommeln, Sprechgesang und auch mit Show-Einlagen. In der Stimmführung und Stimmbildung den Domspatzen am ähnlichsten waren die Posener Knabenchöre. Vermutlich ist dies auf die Tatsache zurückzuführen, daß die ersten Kapellmeister dieser Chöre in Regensburg bei Theobald Schrems, dem Vorgänger Georg Ratzingers, in die Schule gegangen sind. Der südafrikanische Chor beeindruckte mit Werken von Orlando di Lasso und Heinrich Schütz, vor allem aber mit zwei in Afrikaans gesungenen und von Buschtrommeln begleiteten temperamentvollen Volksliedern. Nach einer Pause kamen die Regensburger Domspatzen an die Reihe. Mit Mendelssohn-Bartholdy's »Denn er hat seinen Engeln« und »Der wandernde Musikant« sowie den Volksliedern »Als wir jüngst in Regensburg waren«, »Kein schöner Land« und dem lustigen »Jäger aus Kurpfalz« boten sie einen Querschnitt ihres Könnens. Das Publikum war begeistert.
Während des Aufenthaltes wurde ein enger Kontakt zu den »Posener Knabenchören« geknüpft, der weiter gepflegt werden soll. Vielleicht gelingt einmal eine Gegeneinladung nach Regensburg. Auf jeden Fall sind die Domspatzen zum 50. Geburtstag der »Posener Nachtigallen« 1995 schon jetzt herzlich eingeladen worden.
Für Domkapellmeister G. Ratzinger und seinen Chor ging damit eine an Erfolgen und Erlebnissen reiche Reise in ein Land zu Ende, das den Sozialismus gerade abgeschüttelt hat. Die tiefe Gläubigkeit der Menschen, ihre Kultur, ihre Gastfreundschaft und die Bereitschaft zu Aussöhnung und friedlichem Zusammenleben mit ihren Minderheiten wie auch ihren Nachbarn lassen die Hoffnung auf ein friedliches Europa näherrücken. Mit ihrer jugendlichen Aufgeschlossenheit zu neuen Kontakten und mit ihrer Musik haben die Domspatzen einen wichtigen Beitrag zur Überwindung der realen Grenzen und geistigen Barrieren geleistet.
Ingrid Kneip / Norbert Willisch
Erschienen in:
»Kulturpolitische Korrespondenz« Nr. 826 vom 5. April 1992 der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat