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Polenreise 1992
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Polenreise 1994
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Regensburger Domspatzen als
»Botschafter des guten Willens« in Polen

Es war eine besondere Einladung, die im Oktober 1993 bei Domkapellmeister Georg Ratzinger in Regensburg einging. Sie kam von einem Angelus-Silesius-Haus der Begegnungen in Breslau und galt dem Chor der »Regensburger Domspatzen«, den man gern einem größeren Publikum bekannt machen wollte als dies beim ersten Gastaufenthalt im Lande vor zwei Jahren möglich war. Das Angelus-Silesius-Haus wurde 1993 auf Initiative der Jesuiten in Breslau gegründet und sieht seine wichtigste Aufgabe in der Erziehung junger Menschen zu verantwortungsbewußten, politisch und sozial engagierten Christen im Sinne der katholischen Soziallehre. Träger und Partner des Hauses ist in Polen die »Christliche Gemeinschaft sozial-kultureller Jugendbildungs­werke« mit Sitz in Krakau. Von deutscher Seite wird das Haus gefördert von der »Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke AKSB« sowie von der »Initiative Christen für Europa«, in deren Auftrag der ehemalige Domspatz Wolfgang Mirlach derzeit seinen Zivildienst im Angelus-Silesius-Haus ableistet. Von ihm ging der Anstoß zu dieser Einladung aus. Zum Aufgabenbereich des Hauses gehört die Organisation von Seminaren und Begegnungen im Rahmen des deutsch-polnischen Jugendaustauschs, die helfen sollen, Kontakte zu Menschen des jeweils anderen Landes zu knüpfen, dadurch Vorurteile abzubauen und zum gegenseitigen Verständnis und damit zum Frieden beizutragen.

In diesem Sinne hat Domkapellmeister Ratzinger sein künstlerisches und pädagogisches Schaffen immer auch gesehen, und so freute es ihn besonders, daß ihm wenige Monate vor Beendigung seines Berufslebens noch einmal Gelegenheit gegeben wurde, sich in den Dienst einer solchen Aufgabe zu stellen. Für die Bereitstellung der nötigen Mittel zur Durchführung der Reise sowie die Aufnahme der oberschlesischen Stadt Gleiwitz ins Reiseprogramm sorgte Ministerialrat Norbert Willisch. Dank der Förderung durch das Bayerische Staatsministerium für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst, die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit sowie durch den idealistischen Einsatz vieler Privatpersonen in Polen und bei der deutschen Volksgruppe in Gleiwitz konnten sich 50 Domspatzen mit Domkapellmeister Georg Ratzinger, Geschäftsführer Helmut Petz und der Dolmetscherin und Reiseführerin Ingrid Kneip in der Zeit vom 11. bis 16. Februar 1994 auf die Reise begeben. Der Chor verzichtete auf jegliches Honorar, die Unterbringung erfolgte fast ausschließlich in Familien. Auf dem Programm standen vier Konzerte an vier Tagen, in Warschau, Krakau, Gleiwitz und Breslau. Von polnischer Seite war die Reise sehr gut vorbereitet. In jeder der Städte kündigten Dutzende von Plakaten die Konzerte an, verschiedene Fernsehstationen Polens, die ZDF-Redaktion in Warschau sowie viele bedeutende Tageszeitungen, wie »Gazeta Wyborcza«, »Slowo«, »Zycie Forum«, »KAI Biuletyn« und »Gazeta Robotnicza«, berichteten im voraus über den Auftritt des berühmten Chores.

Unterwegs erhielten die Domspatzen eine Einführung in polnische Landeskunde und Geschichte. Schon auf der ersten Station der Reise, bei einem Rundgang durch Warschau, wurde ihnen der außerordentliche Selbstbehauptungswille der Polen bewußt. Sie standen beeindruckt vor dem Königsschloß, der Kathedrale, vor den herrlichen Häuserfassaden des Alten Marktes, gingen durch mittelalterliche Gassen und Höfe, und konnten nur schwer glauben, daß kein Stein hier älter ist als 50 Jahre. Voller Begeisterung für die schöne Stadt kehrten sie zum Bus zurück, um hier mit einer anderen Wirklichkeit konfrontiert zu werden: mit der polnischen Auto-Mafia, die das schuleigene Begleitfahrzeug, einen BMW, am hellichten Tag von einem belebten Platz in Warschau verschwinden ließ. Dies löste zwar großes Entsetzen aus, überschattete aber nicht das Konzert, das am Abend in der ehrwürdigen Heilig-Kreuz-Kirche stattfand. Diese Kirche birgt – einer nationalen Reliquie gleich – das Herz von Frédéric Chopin; in ihr feierte man den ersten Jahrestag der Verfassung vom 3. Mai 1791, bevor Polen ein Jahr später zum zweiten Mal geteilt wurde; während des Warschauer Aufstands im August und September 1944 tobten hier erbitterte Kämpfe.

Es war grimmig kalt an diesem Abend, das Thermometer sank auf minus 19 Grad, und trotzdem war die Kirche voll besetzt. Ein älterer Herr kam zum Informationsstand des Chors, erbat zwei Programme und war enttäuscht, keine Kassetten oder CDs kaufen zu können. Er stellte sich als ehemaliger Kapellmeister eines Knabenchores aus Przemysl vor, dessen Vorgänger bei Theobald Schrems in Regensburg (dem Vorgänger Georg Ratzingers) studiert hatte und diese Musiktradition in Polen fortwirken ließ. Er war zufällig in Warschau und überglücklich, den berühmten Chor endlich einmal selbst hören zu können. Er nahm Platz in der vorletzten Bankreihe und hörte den letzten Teil des Konzertes kniend an.

Tags darauf, an einem Sonntag, wurde auf dem Weg nach Krakau Einkehr in Tschenstochau, dem berühmtesten Wallfahrtsort des Landes, gehalten. Vor dem Gnadenbild der Schwarzen Madonna umrahmte der Chor musikalisch die Mittags-Messe. Bekanntlich wird die Muttergottes als »Königin Polens« verehrt. Es war die erste Begegnung mit der tiefen Frömmigkeit der Polen, die unabhängig vom Alter nichts davon abhalten konnte, betend auf Knien um den Altar zu rutschen. Das Kloster auf dem »Hellen Berg« ist seit einer erfolglosen schwedischen Belagerung im 17. Jahrhundert Symbol nationalen Widerstands und unbeugsamen Glaubens.

Von der »heimlichen« Hauptstadt Polens ging es weiter zur »geistigen« Hauptstadt, nach Krakau. Sigismund III. Wasa verlegte 1596 die Hauptstadt von hier nach Warschau und ist deshalb bis heute den Krakauern als neureicher Emporkömmling verhaßt. Krakau blieb bis heute das geistige Zentrum Polens. In der Universitätskirche der Hl. Anna, einer der schönsten Barockkirchen Polens, fand das zweite Konzert der Domspatzen statt. Die prächtige Kirche, die vielen Zuhörer, die Übertragung durch das Fernsehen, spornten den Chor zu einer Höchstleistung an; auch Kardinal Macharski war zugegen. Leider stand nur ein halber Tag zur Verfügung, um einen Eindruck von dieser wunderschönen, polnisch-deutsch-österreichisch-jüdisch geprägten Stadt zu bekommen.

Nächste Station war Gleiwitz. das Zentrum eines von vielen Deutschen bewohnten, erst kürzlich errichteten Bistums. Fanden bis dahin fast alle Begegnungen mit den Menschen nur über die musikalische Brücke statt, da die Sprachbarrieren oft unüberwindlich waren, in Gleiwitz sollte sich das ändern. Schon an der Stadtgrenze wurde der Bus vom Kulturbeauftragen der deutschen Volksgruppe erwartet und zum Gleiwitzer Sender geleitet. Dessen von den Nazis inszenierter Überfall bildete bekanntlich den Vorwand für den Angriff auf Polen, durch den der Zweite Weltkrieg ausgelöst wurde. In schönem schlesischen Deutsch erklärte er die Konstruktion dieses erhalten gebliebenen hölzernen Wunderwerkes, auf das die Deutschen in Gleiwitz noch heute besonders stolz sind. Es folgte ein Empfang im Pfarrsaal der St. Bartholomäus-Gemeinde, in dem Frauen aus den deutschen Gastfamilien die Tische reich gedeckt hatten, mit selbstgebackenen Broten und belegten Semmeln. Schnell entwickelte sich eine entspannte, fröhliche Unterhaltung, an der auch der polnische Pfarrer von St. Bartholomäus teilnahm. Hier zeigte sich, welche Bedeutung der Besuch des Chores für die dort lebenden Deutschen hatte. Den Deutschen war es in der Pfarrei zwar möglich, sich zu versammeln und gelegentlich auch Feste zu feiern, aber sie fühlten sich bisher eher geduldet als angenommen. Erst durch die Vorbereitung auf den Besuch der Domspatzen kam man sich näher. Und die geschickte Vermittlung von Pater Janusz Sliwa, dem jungen, engagierten Leiter des Angelus-Silesius-Hauses in Breslau, trug dazu bei, daß die bisher eher reservierte Haltung zwischen dem örtlichen Pfarrer und seinen deutschen Gemeindemitgliedern vollends überwunden werden konnte.

Das Konzert in Gleiwitz wurde ein Medienereignis. Fernsehen und Rundfunk sendeten live. Die Angehörigen der deutschen Volksgruppe waren stolz, einen so gefeierten Chor aus Deutschland zu Gast zu haben. Der Besuch trug wesentlich dazu bei, ihr Selbstbewußtsein zu stärken und das oft vorherrschende Gefühl abzustreifen, alleingelassen zu sein. Die Kirche St. Bartholomäus ist die größte Kirche der Diözese Gleiwitz. In ihr leben annähernd 23.000 Deutsche, aber nur 3000 meist ältere Menschen sind in den sozial-kulturellen Freundschaftskreisen organisiert. Über 1000 Menschen, Deutsche und Polen, hatten sich bei klirrender Kälte in dieser riesigen, 4000 Menschen fassenden Kirche eingefunden, um die Domspatzen zu hören. Bischof Wieczorek eröffnete das Konzert in deutscher und polnischer Sprache. Er dankte den Sängern für ihr Kommen und rief die Angehörigen beider Nationalitäten dazu auf, einander anzunehmen: »Erst das Herz zeigt dem Verstand Möglichkeiten eines ehrlichen Handelns auf.« Der Chor setzte mit dem Sankt-Anna-Lied in deutscher Sprache und der Hymne »Gaude mater Polonia« den dazu passenden Schlußakkord. Der Applaus war überwältigend.

Beim anschließenden Abendessen in den Gastfamilien brach die ganze Enttäuschung über die Lage der deutschen Volksgruppe in Polen hervor, und man hörte viele kritische Worte. Die Menschen dort glauben sich vergessen und »abgeschrieben«. Sie meinen, mit dem deutsch-polnischen Freundschaftsvertrag und den darin enthaltenen Bestimmungen zum Schutz nationaler Minderheiten hätten wir »Westdeutschen« unser Gewissen beruhigt und die Landsleute im Osten ihrem Schicksal überlassen. Wer, so sagen sie, frage noch, was aus den Verträgen geworden ist? Wer nehme sie in Schutz, wenn sie als Mitglied des »Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften« (VdG) ihre Arbeitsstelle verlieren oder nicht befördert werden? Wer interveniere, wenn ihre Häuser mit antideutschen Parolen beschmiert und mit Lackbeuteln beworfen werden. Wo seien die versprochenen deutschen Schulen und Kindergärten? Sie glauben, jeder Asylant in Deutschland sei besser geschützt als sie hier in Polen. Die Fenster im Haus der Gastgeber waren vergittert, besagte Farbspuren an der Fassade noch sichtbar. Auf den Wänden des benachbarten Gästehauses des VdG standen Parolen wie »Schwaben ins Reich« und andere Sprüche. Im privaten Bereich gibt es viele kleine erkennbare Schritte zu einem friedlichen Neben- und Miteinander, aber sie reichen nicht aus. Von unserer Seite aus könnte und sollte ihrer Meinung nach mehr getan werden. Diese Diskussionen machten alle sehr betroffen. Die Frage, welche Zukunft die Deutschen in Polen haben, beherrschte noch am nächsten Tag auf der Weiterfahrt die Gespräche im Bus und wird lange nachwirken.

Das letzte Konzert fand in der Kirche »Maria im Sande« in Breslau statt. Vorher hatten die Domspatzen die Stadt besichtigt, die letzten kleinen Einkäufe getätigt, eine unangenehme Bekanntschaft mit jugendlichen Straßenräubern gemacht und die große Hilfsbereitschaft und den Einfallsreichtum der Polen bei der Reparatur des eigenen Busses erfahren. Nach dem Konzert traf man sich noch einmal im Angelus-Silesius-Haus. Viele junge Leute waren dazu eingeladen; leider reichten ihre Deutsch- oder Englischkenntnisse nicht aus, richtig ins Gespräch zu kommen. Trotzdem genoß man die Gastfreundschaft und dankte es mit kleinen Gesangseinlagen. Die herzliche Aufnahme in den polnischen Familien und die Selbstverständlichkeit, mit welcher der häufig beengte Wohnraum mit den Gästen geteilt wurde, werden allen in bester Erinnerung bleiben.

Mit Genugtuung kann festgestellt werden, daß durch die Konzerte viele Menschen – Polen wie Deutsche – erreicht und über das sorgenvolle Einerlei ihres Lebensalltags hinausgehoben wurden. Daneben ist es aber auch gelungen, etwas zum besseren Verständnis zwischen Polen und Deutschen beizutragen, wie es mit dieser Reise intendiert war. Gleichwohl bleibt noch viel zu tun. Möge das Beispiel vielfältige Nachahmung finden! Dabei ist jedoch zu bedenken: Die Beziehungen der Völker untereinander werden immer auch von ihrem Verhältnis zu den jeweiligen Minderheiten im eigenen Land bestimmt.

Ingrid Kneip/Norbert Willisch






Erschienen in:
»Kulturpolitische Korrespondenz« Nr. 908 vom 25.7.1994 der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat




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