Im Schlesischen Kulturspiegel 45, 2010, Heft 2 ist unter der Überschrift »Von Neisse – UNTERWEGS – nach Neisse« auf eine dem malerischen und zeichnerischen Werk Heinrich J. Jarczyks gewidmete Ausstellung hingewiesen worden, die das Haus Schlesien in Königswinter-Heisterbacherrott vom Museum der Stadt Neisse übernommen hat und [nun] bis [7. November] »3. Oktober 2010« in seinem Eichendorff-Saal zeigt. Die Ausstellung wird dort tatsächlich noch fünf Wochen länger, also bis 7. November, zu sehen sein. Eröffnet wurde sie am 13. Juni im Beisein vieler Freunde und Bekannten des Künstlers, stimmungsvoll umrahmt von der Kölner Soloharfenistin Konstanze Jarczyk, seiner Tochter, – passend zur Thematik der Ausstellung mit musikalischen Reiseskizzen von Komponisten aus verschiedenen Ländern. Aus New York war der Kunsthistoriker und Verleger der Zeitschrift »Art Times«, Raymond J. Steiner, gekommen, der zwei stattliche Monographien über Jarczyk sowie den Text verfaßt hat, auf den sich der eingangs genannte Beitrag im wesentlichen stützt; er gab einen Einblick in die über 20jährige freundschaftliche Verbindung mit dem Künstler.
Davor – vom 27. März bis 23. Mai 2010 – waren die an die hundert Zeichnungen und Aquarelle aus sieben Jahrzehnten bereits im Museum der Stadt Neisse zu sehen gewesen. Damit wurde dem promovierten Biologen und passionierten Zeichner und Maler Heinrich J. Jarczyk ein Herzenswunsch zu seinem 85. Geburtstag erfüllt. Zur Eröffnung dieser Retrospektive ist er zum zweiten Mal nach 1945 an den Ort seiner Kindheit und Jugend zurückgekehrt – zusammen mit seiner Frau und einer polnisch sprechenden Nichte. Im Jahr 2000 hatte man den damals 75jährigen bereits am gleichen Ort mit einer Ausstellung seines graphischen Werks geehrt, wofür er sich seinerzeit mit einer Schenkung der ausgestellten 83 Radierungen revanchierte. Diesen Satz von Radierungen überließ er sechs Jahre später auch dem Schlesischen Museum zu Görlitz anläßlich einer Ausstellung seiner Radierungen, Aquarelle und Zeichnungen in dem neu eröffneten Haus.
Zum Auftakt der Neisser Ausstellung war die Museumshalle im barocken Bischofspalais, das nach der Zerstörung im Krieg wieder aufgebaut wurde, voll besetzt; besonders fiel der hohe Anteil von Jugendlichen auf. Dazu trug wohl auch bei, daß die Besucher mit einem Konzert von Schülern der nach dem Komponisten Witold Lutosławski benannten örtlichen Musikschule eingestimmt wurden: Zwei Mädchen brachten am Flügel einen Walzer und ein Nocturne von Frédéric Chopin zu Gehör (wie könnte es im Jahr von Chopins 200. Geburtstag anders sein?) – im Wechsel mit einem schmissigen Tango von Astor Piazzolla und dem weltbekannten Ohrwurm »Bésame Mucho« von Consuelo Velázquez, dargeboten von einem jungen, behenden Akkordeon-Spieler.
Zu den von der Museumsdirektorin Dr. Małgorzata Radziewicz namentlich begrüßten Gästen zählten u. a. der deutsche Konsul Ludwig Neudorfer aus Oppeln (gleichzeitig Schirmherr der Ausstellung), der Vorsitzende des Neisser Kreistags Mirosław Aranowicz und Prälat Nikolaus Mróz von der am Ring gelegenen St. Jakobuskirche. Die Hausherrin [Dr. Małgorzata Radziewicz] gab sodann eine kurze Einführung und würdigte [in ihrer Einführung] Jarczyk als weltläufigen Wissenschaftler und Künstler, der viele Länder der alten und neuen Welt bereist und seine Eindrücke in Bildern festgehalten hat. Ferner erinnerte sie an die [dessen] generöse Schenkung [an das Museum], die das Museum von ihm vor zehn Jahren erhalten habe. Ein Dolmetscher aus dem Oppelner Konsulat übersetzte ihre Worte ins Deutsche.
Heinrich J. Jarczyk dankte seinerseits für das großartige Geschenk, das man ihm mit der Ausstellung in dem ehrwürdigen Gebäude gemacht habe (an deren Zustandekommen der Autor dieser Zeilen mitwirken durfte), und gab ein paar Erläuterungen zu den gezeigten Bildern, die seine Nichte ins Polnische übersetzte. Die ältesten Bilder datieren aus den letzten Monaten des Krieges und aus der kanadischen und belgischen Kriegsgefangenschaft, in die er nach schwerer Verwundung geraten war. Pinsel, Federn und Kohlestifte ersetzten in jener Zeit den fehlenden Fotoapparat. Seit 1952, mit dem Eintritt ins Berufsleben, waren kleine Skizzenbücher in den Anzugtaschen seine ständigen Begleiter. Häufige berufliche, nach der Pensionierung im Jahr 1987 auch private Reisen, eröffneten ihm Eindrücke von unbekannten Welten und Kulturen. »Mögen die Bilder das Fernweh der Betrachter beflügeln und etwas von der Schönheit unserer Welt vermitteln«, so sein Wunsch. Zur Komplettierung seines Radierwerks übergab er dem Museum weitere sieben in den letzten Jahren entstandene Arbeiten, darunter eine Ansicht des Museums in Neisse und des Görlitzer Schönhofs, in dem sich bekanntlich das Schlesische Museum befindet.
Jarczyks Zeichnungen und Aquarelle füllten – nach den bereisten Ländern geordnet – zwei große Ausstellungsräume. Den Anfang bildeten ein paar vergilbte Blätter, die in den Jahren 1943 bis 1946 hinter der Front und in der Gefangenschaft entstanden sind und Momentaufnahmen von Personen, Situationen, Gebäuden und Landschaften zeigen. Als 18jähriger war er gleich nach dem Abitur am Gymnasium Carolinum und kurzer militärischer Ausbildung auf den Kriegsschauplatz in Nordfrankreich abkommandiert worden. Aus der Zeit der Gefangenschaft sind auch einige Reminiszenzen an seine Heimatstadt ausgestellt, die er aus der Erinnerung zu Papier gebracht hat, nachdem sein Neisser Skizzenbuch bei der Gefangennahme requiriert wurde. Erstaunlich die Detailgenauigkeit dieser Ansichten von markanten Gebäuden der Stadt, die auf ein fotografisches Gedächtnis des Zeichners schließen lassen. Aus allen diesen im wesentlichen auf der Grundlage des schulischen Zeichenunterrichts entstandenen frühen Bildern ist ein großes Talent mit enormem Gestaltungsdrang zu spüren (von einem Mitgefangenen konnte er sich überdies die Technik des Radierens aneignen). Die Entwurzelung durch Krieg und Heimatverlust und wohl auch die Familientradition ließen den jungen Mann jedoch keinen künstlerischen Berufsweg einschlagen, sondern einen »ordentlichen« Brotberuf ergreifen, zumal er sich auch seiner Neigung für die Fächer Biologie und Chemie in der Schule bewußt war.
Der aus der Gefangenschaft Entlassene fand im Frühjahr 1947 seine Eltern und Geschwister in Kaufbeuren im Allgäu wieder; der 67jährige Vater, ehedem Lehrer für Deutsch, Latein und Französisch u. a. am »Carolinum«, unterrichtete am dortigen Gymnasium. Im selben Jahr schrieb der Sohn sich an der Universität München zum Studium der Biologie und Chemie mit Nebenfach Kunstgeschichte ein. Obwohl er als Werkstudent arbeiten mußte und für Zeitungen fotografierte und malte, schloß er sein Studium 1952 mit der Dissertation [über den Phosphorstoffwechsel der Schlammfliege] ab (am Zoologischen Institut des Verhaltensforschers Karl von Frisch, des späteren Nobelpreisträgers, galt sein Interesse dem Phosphorstoffwechsel der Schlammfliege, einer bienenähnlichen Fliege, auf die er schon im belgischen Bergwerkslager aufmerksam geworden war). Diesen Lebensabschnitt markieren drei in der Ausstellung hängende Bilder aus den Jahren 1951/52 vom zerbombten München sowie – im Kontrast dazu – von Allgäuer Rindern und von Motiven aus der Altstadt von Überlingen am Bodensee.
Aus den 1950er und 1960er Jahren gab es in der Ausstellung – von einer Ausnahme abgesehen – keine weiteren Zeugnisse künstlerischer Betätigung. In diesen Jahren war Heinrich J. Jarczyk offenbar voll damit beschäftigt, sich eine berufliche Stellung aufzubauen. Er begann in einem großen bayerischen Chemie-Werk, wechselte zu einer baden-württembergischen Firma, die Pflanzenschutzgeräte entwickelte, und verbrachte im Rahmen dieser Tätigkeit mehrere Monate mit Versuchen in fünf südamerikanischen Ländern. Es folgte ein mehrjähriger Forschungsaufenthalt an der Universität Alexandria/Ägypten sowie 1959 ein Einsatz am Max-Planck-Institut für Biochemie in München. Von 1960 bis zur Pensionierung arbeitete er schließlich beim Bayer-Konzern in Leverkusen auf verschiedenen Forschungsfeldern. In diese und die von beruflichen Verpflichtungen freie Zeit [und den Ruhestand] fallen die meisten der ausgestellten Werke. Auch zuweilen schnell hingeworfen erscheinende Zeichnungen und Aquarelle verraten in Auffassung und Ausführung ein stupendes Können. Gebäudeansichten stehen neben Landschafts- und Naturstudien, Portraitskizzen neben Tierdarstellungen und Stilleben. Der Bogen reicht von Deutschland über die west- und südeuropäischen Nachbarländer und Polen nach Malta, Ägypten, Mali, Australien, Thailand, China, den USA, den Bahamas und Grenada. In den Bildern sind künstlerische Phantasie und (natur)wissenschaftliche Akribie – zwei scheinbare Gegensätze – eine enge Verbindung eingegangen. Man erinnert sich des Goetheschen Verses aus einem seiner Sonette: »Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen / und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden; / der Widerwille ist auch mir verschwunden, / und beide scheinen gleich mich anzuziehen.«
Eine besondere Freude bereitete es Herrn Jarczyk zu sehen, wie jung und pulsierend das heutige Nysa allein durch die vielen Jugendlichen auf Straßen und Plätzen erscheint, und die positiven Veränderungen im Stadtbild gegenüber dem düsteren Eindruck bei seinem ersten Besuch vor zehn Jahren wahrzunehmen. Der Rathausturm steht überraschenderweise wieder aufgebaut im Zentrum des Rings, wenn auch nicht ganz so hoch wie vor dem Krieg; dafür braucht man ihn nicht mühsam zu erklimmen, sondern kann mit dem Lift hochfahren und den schönsten Rundblick über die Stadt genießen. Konkrete Planungen beinhalten sogar die Wiedererrichtung der zu einem großen Teil kriegszerstörten und abgetragenen Bebauung im Innern des Rings. Ein außerordentlicher Anziehungspunkt in Schrittweite vom Ring ist die erhalten gebliebene und gut restaurierte St.-Hedwigs-Bastion, ein Teil des legendären Befestigungsgürtels der Stadt.
Beim Gang durch die Straßen stellten sich bei [ihm] Herrn Jarczyk auf Schritt und Tritt Erinnerungen ein: an seine Ministrantenzeit im Stammhaus der Grauen Schwestern (deren Gründerin Maria Merkert vor drei Jahren seliggesprochen wurde), an den Feuerwehrdienst und die Brandwachen im Stadttheater, an den Tanzstundenschwarm, an den Zeichenlehrer am Gymnasium, der zugleich Leiter des städtischen Museums war (für das er seine guten Schüler immer wieder zu kleinen Hilfsdiensten heranzuziehen wußte), an den Chemie- und Physiklehrer, der den Grundstein für seine spätere Berufswahl legte. Das Gespräch kam natürlich auch auf den aus Neisse stammenden Nobelpreisträger Konrad Bloch, den Jarczyk in den USA persönlich kennenlernen konnte, sowie seine 99jährige Witwe, eine geborene Münchnerin, zu der immer noch brieflicher Kontakt besteht – übrigens auch meinerseits. Beim Namen Konrad Bloch trafen sich die beiderseitigen Erinnerungen; habe ich mich doch, als er vor zehn Jahren starb, für einen Nachruf eingehend mit seiner Person und seinem Wirken befaßt und u. a. (mit Erfolg) dafür eingesetzt, daß die zum Gedenken an ihn gestiftete Bronzetafel am Gebäude des vormaligen Realgymnasiums angebracht wurde, das er besuchte – gegenüber der »Kreuzherrnkirche« St. Peter und Paul, einer der schönsten Barockkirchen Schlesiens. Der angrenzende Gebäudetrakt des einstigen Kreuzherrnstifts, der jetzt eine Begegnungs- und Bildungsstätte der Diözese Oppeln beherbergt, bot uns ein stilvolles Quartier.
Nachzutragen bleibt, daß man am Rande der Neisser Ausstellung übereingekommen war, Heinrich J. Jarczyk eine zweisprachige (deutsch-polnische) Dokumentation der ausgestellten Bilder zu widmen und ihn sowie seine Kunst damit weiteren, auch museumsferneren Kreisen in Schlesien wie in Deutschland nahezubringen. Die Gestaltung der Schrift sollte dem Museum obliegen, das auch den einführenden Text beisteuern wollte. Der anwesende Vorsitzende des Neisser Kreistags und der Oppelner Konsul erklärten spontan, die Hälfte bzw. ein Viertel der auf 15.000 Złoty oder ca. 4.000 Euro geschätzten Kosten zu übernehmen. Die Finanzierung des fehlenden Viertels hat das Haus Schlesien zugesagt; es verband damit die Absicht, den ihm zustehenden Anteil an der Auflage der Schrift für seine Jarczyk-Ausstellung zu nutzen.
Um so bedauerlicher ist es, daß die polnische Seite plötzlich nicht mehr zu den auch schriftlich fixierten Termin- und Finanzierungsabsprachen steht und das gemeinsame Vorhaben [einer Ausstellungsdokumentation] so in fortgeschrittenem Zustand platzen ließ. Dabei lagen die vereinbarten Textbeiträge vom Haus Schlesien und vom deutschen Konsulat, welches auch für die Übersetzung der Texte ins Polnische Sorge trug, zeitgerecht vor; außerdem hatte Herr Jarczyk von allen Bildern der Ausstellung direkt verwertbare digitale Aufnahmen zur Verfügung gestellt. Was das Museum dazu bewogen hat, das deutsche Konsulat, das Haus Schlesien und den angeblich so hochgeschätzten Künstler sowie letztlich auch den Autor zu düpieren, der das Vorhaben auf den Weg gebracht hat, muß dahingestellt bleiben, da der Kontakt unvermittelt abgerissen ist und nicht wiederhergestellt werden konnte.
Einen gewissen, wenngleich unzulänglichen Ersatz für die nicht zustande gekommene Ausstellungsdokumentation vermittelt der mit 23 Bildern aus allen Schaffensperioden etwas umfangreicher als sonst gehaltene Bildteil meines Jarczyk-Artikels, der im Internet unter www.willisch.eu zu finden ist.
Erschienen in:
»Schlesischer Kulturspiegel« 3/2010 der Stiftung Kulturwerk Schlesien, Würzburg (in gekürzter Form; mein Textvorschlag ist in vollem Wortlaut wiedergegeben, wobei die in der Veröffentlichung weggelassenen Passagen grau gehalten und die hinzugefügten in eckige Klammern gesetzt sind).
Anmerkung:
Über das in den letzten Absätzen des vorstehenden Beitrags bedauerte Nichtzustandekommen der vereinbarten Ausstellungsdokumentation habe ich die Polnische Generalkonsulin in München mit Schreiben vom 22. August 2010 unterrichtet und ihr ergänzend dazu den mit dem Neisser Museum geführten elektronischen Schriftwechsel über das Vorhaben zur Kenntnis gebracht. Das Schreiben blieb – trotz meiner Nachfrage sechs Wochen später – ohne Antwort. Auch das Museum hat nichts mehr von sich hören lassen. »Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert« möchte man mit Wilhelm Busch bzw. Bert Brecht dazu sagen. Das Generalkonsulat meint offenbar, durch Schweigen das inakzeptable Verhalten des Museums decken zu müssen, und hält nicht einmal ein Wort des Bedauerns für angebracht. Damit erweist es weder dem Museum noch dem Land, das es vertritt, einen guten Dienst.
Damit der Leser sich selbst ein Urteil über das eigenartige und durch nichts zu erklärende Verhalten des Museums in Neisse wie des Polnischen Generalkonsulats in München bilden kann (insbesondere im Hinblick auf eventuell beabsichtigte Projekte mit dem Museum), mache ich den Fall und mein besagtes Schreiben hier publik:
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