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Eichendorff-Medaille für Günther Schiwy

Im Rahmen ihrer alle zwei Jahre stattfindenden internationalen Kongresse verleiht die Eichen­dorff-Gesellschaft an Persönlichkeiten, die sich in ihrem Schaffen wissenschaftlich, kritisch oder kreativ mit Eichendorffs Leben und Werk auseinandergesetzt haben, die Eichendorff-Medaille. In diesem Jahr wurde sie dem Eichendorff-Biographen Dr. Günther Schiwy zuerkannt. Vor ihm erhielten etwa der Germanist Wolfgang Frühwald oder die Schriftsteller Horst Bienek und Ilse Aichinger diese Auszeichnung. Günther Schiwy konnte die Medaille jedoch nicht mehr selbst in Empfang nehmen und sich mit einem Vortrag dafür bedanken; am 5. September 2008, vier Wochen vor Beginn des Eichendorff-Kongresses, der dieses Jahr in Regensburg abgehalten wurde, ist er im oberbayerischen Steinebach am Wörthsee verstorben. Auf Wunsch seiner Angehörigen habe ich an ihrer Stelle die Medaille aus der Hand der Präsidentin der Eichendorff-Gesellschaft, der Germanistikprofessorin der Universität Regensburg Ursula Regener, entgegengenommen.

Wer war Günther Schiwy, und was bewog den Vorstand der Eichendorff-Gesellschaft, ihm die von dem schlesischen Bildhauer, Maler und Graphiker Walter Kalot geschaffene Bronzemedaille mit dem Reliefbild Eichendorffs (die 1982 eine durch viele Abgüsse abgenutzte Medaille von Theodor von Gosen aus dem Jahr 1934 abgelöst hat) zu verleihen? Aufschluß über das Leben des Verstorbenen und seine Arbeit geben der auf seinen Notizen fußende, beim Trauergottesdienst von Pfarrer Elmar Schnitzler von der katholischen Pfarrgemeinde Zum Hl. Abendmahl Wörthsee geschilderte Lebenslauf und die Abschiedsworte des Verlegers Dr. h.c. Wolfgang Beck, in dessen Diensten er zwanzig Jahre lang stand. Im folgenden beziehe ich mich verschiedentlich darauf.

Günther Schiwy wurde am 29. November 1932 in Lehrte bei Hannover geboren. Seine Eltern stammten aus Ost- bzw. Westpreußen. Schon während der Schulzeit zeichnete er sich durch schriftstellerische Arbeiten aus und engagierte sich in der kirchlichen Jugendarbeit. Nach dem Abitur entschied er sich für den Priesterberuf und den Eintritt in den Jesuitenorden, der ein gründliches Studium und die Übernahme spezieller Aufgaben in Kirche und Welt verlangt. Im Anschluß an das Ordensstudium der Philosophie, Theologie, Soziologie und Literaturwissenschaften in München und Frankfurt am Main wurde er für die Arbeit in der Redaktion der Münchener Jesuitenzeitschrift »Stimmen der Zeit« bestimmt. Ein Studienjahr an der Sorbonne in Paris regte ihn zu einer intensiven Beschäftigung mit der französischen Gegenwartsphilosophie an; daraus entstand das 1969 erschienene Buch »Der französische Strukturalismus«, ein wissenschaftlicher Bestseller, der ihn zu weiteren Büchern ermutigte.

Die schrittweise Rücknahme der Errungenschaften des Zweiten Vatikanischen Konzils führte dazu, daß Günther Schiwy sich 1970 von den Ordensgelübden befreien und in den Laienstand zurückversetzen ließ, um so ungehindert und uneingeschränkt der Wahrheit dienen zu können. 1971 heiratete er die Musikpädagogin Brigitte Seitz. Zunächst bot ihm der Bayerische Schulbuchverlag, in dem er fünf Jahre als Lektor und Cheflektor tätig war, ein Auskommen. 1975 wechselte er zum Verlag C.H. Beck, wo er zwanzig Jahre lang als Lektor das Verlagsprogramm maßgeblich mitgestaltete: in der Philosophie und den Religionswissenschaften, in der Geschichte, in den Sprach- und Kulturwissenschaften. Nach den Worten seines Verlegers besaß er ein ungewöhnlich waches Sensorium und einen scharfen Blick für politische und gesellschaftliche Entwicklungen der Gegenwart, für Wandlungen des Zeitgeistes, für globale Probleme und Krisen; die Ökologie lag ihm besonders am Herzen. Bei der Betreuung der »Beck’schen Reihe« zu Fragen unserer Zeit, die zu seinem Aufgabenbereich gehörte, kamen ihm seine weitgefächerten Kenntnisse und Interessen zugute. Seine Autoren fühlten sich unter seiner Obhut ausgesprochen wohl, und seine ›Produktion‹, die Bücher, für die er sorgte und die jährlich an die Öffentlichkeit gelangten, war bemerkenswert groß.

Daneben vermochte er die ihm verbleibende knappe private Zeit für eigene schriftstellerische Arbeiten zu nutzen, sich in zahlreichen Artikeln und Vorträgen zu aktuellen Themen zu Wort zu melden und nach und nach ein vielseitiges und beeindruckendes Oeuvre vorzulegen. 1977 brachte er seine Promotionsarbeit »Zur Ideologie der Unfehlbarkeitsdiskussion« heraus, eine Strukturanalyse zu Texten von Hans Küng und der Römischen Glaubenskongregation. Als Frucht seiner Vertiefung in Leben und Denken des französischen Jesuiten, Religionsphilosophen, Anthropologen und Paläontologen Pierre Teilhard de Chardin entstanden in der Zeit beim Beck-Verlag zahlreiche ihm gewidmete Publikationen und andere von ihm inspirierte religiöse Schriften in diversen Verlagen. Im Jahr 2000 kam sein opus magnum, die Biographie über »Eichendorff. Der Dichter in seiner Zeit« heraus, in die er viele Jahre Arbeit gesteckt hat, insbesondere nach Beendigung des Berufslebens. In Dreijahresschritten folgten eine Biographie der Mystikerin und Visionärin des späten Mittelalters Birgitta von Schweden sowie ein Buch über Rainer Maria Rilke und die Religion. Dazwischen gönnte er es sich, zusammen mit seiner Frau seinen Buchgestalten auf Reisen in Frankreich, Schlesien, Schweden, Italien und Zypern sowie nach Worpswede, in die Schweiz und nach Duino bei Triest nachzuspüren. Sein allerletztes Manuskript, das er noch abschließen konnte, trägt den Titel »Die vergessene Mystik des Schönen«; es wird hoffentlich bald gedruckt vorliegen.

Mit ihrer Entscheidung, Dr. Günther Schiwy am 2. Oktober dieses Jahres die Eichendorff-Medaille zu verleihen, würdigt die Eichendorff-Gesellschaft die außerordentliche Leistung des Eichendorff-Biographen und führt dazu unter anderem aus: »Günther Schiwy kümmerte sich um Eichendorffs Biographie, als es an der Zeit war. Die Vorgängerbiographien waren in den 1920er und 1960er Jahren erschienen, die Forschung hatte längst über sie hinausgeblickt und die Kenntnisse zu Eichendorff und seiner Zeit vermehrt. Günther Schiwy bewegte die Lücke, die zwischen der ›Beschwingtheit des ’Taugenichts‘ und der berühmten Wanderlieder‹ und der Mühsal in Eichendorffs Leben klafft. Mit dokumentarischer Genauigkeit, Detailfülle und Epochenkenntnis zeichnet er auf 700 Seiten die Facetten von Eichendorffs Persönlichkeit nach. Er zeigt den Romantiker, den Essayisten, den Romancier, den Zeitkritiker, den Familienvater, den Beamten und vieles mehr. Seine Intention, ›den Laien, denen eine Eichendorff-Bibliothek in der Regel nicht zugänglich ist, das neue, umfassendere Eichendorff-Bild […] so authentisch und nachvollziehbar wie möglich erscheinen zu lassen‹, kommt dem Zweck der Eichendorff-Gesellschaft absolut entgegen….«

Wie komme ich dazu, die Günther Schiwy posthum verliehene Auszeichnung entgegenzunehmen? Ich kenne ihn erst seit ein paar Jahren – genaugenommen seit dem Erscheinen seiner großen Eichendorff-Biographie. Er verehrte mir ein Exemplar und bedachte mich mit einigen weiteren für die eine oder andere deutschsprachige Bibliothek in der oberschlesischen Heimat des Dichters. Ein paar Jahre später, als am ehemaligen Josephs­konvikt in Breslau eine an Eichendorff (und seine darin verbrachte Breslauer Schul- und Studienzeit) erinnernde Tafel anzubringen war, suchte ich meinerseits seinen Rat. (In diese Tafel ist übrigens – wie aus dem Beitrag im »Schlesischen Kulturspiegel« 1/06 zu ersehen – ein Bronzerelief des jungen Eichendorff von der Hand des gleichen Künstlers eingelassen, der die Günther Schiwy jetzt verliehene Medaille gestaltet hat.) Letztes Jahr schließlich ließ Günther Schiwy sich dafür gewinnen, im Eichendorff-Kultur- und -Begeg­nungs­zentrum in Lubowitz anläßlich der traditionellen Gedenkfeier am Geburts­tag des Dichters über »Eichendorffs Aktualität« zu referieren; Aktualität im Hinblick auf die gegenwärtigen Herausforderungen durch die weltweite Globalisierung, durch Terrorismus und Religionskriege sowie durch Umweltzerstörung und Klimawandel. Der vielbeachtete Vortrag ist mittlerweile in der zweisprachigen (deutsch-polnischen) Zeitschrift »Hefte für Kultur und Bildung« des Joseph von Eichendorff-Konver­satoriums Oppeln abgedruckt worden. Seine Verbundenheit mit Lubowitz brachte Günther Schiwy in der Folge durch eine ansehnliche Spende zum Ausdruck, die er bei seiner Vortragstätigkeit gesammelt hatte und mir für diesen Zweck anvertraute. Auf diese Gesichtspunkte konnte ich bei der Entgegennahme der Eichendorff-Medaille hinweisen sowie darauf, daß Günther Schiwy am 25. November 2007 – passend zu Eichen­dorffs 150. Todestag – einen bemerkenswerten Vortrag über Hedwig von Andechs und Joseph von Eichendorff in der Alten Bibliothek des Klosters Andechs gehalten hat. Der Vortrag mit dem Titel »Eine Heroin der Weltgeschichte« war auch als Beitrag zum Gedenken an die Heiligsprechung Hedwigs vor 740 Jahren gedacht. Im Mittelpunkt steht Eichendorffs Ent­wurf einer Einleitung zur geplanten Lebensbeschreibung der heiligen Hedwig, die er wenige Wochen vor seinem Tod auf Anregung des Fürstbischofs von Breslau zu schreiben begonnen hatte. Für den Dichter ist Hedwig der Inbegriff des mittelalterlichen Menschen, und im Mittelalter sah er ein Modell für die Zukunft Europas. Anstelle des obligaten Preisträgervortrags brachte ich ein paar Abschnitte aus diesem letzten Vortrag Günther Schiwys zu Gehör und übergab dem Auditorium anschließend den Vortragstext in Form einer kleinen, ad hoc hergestellten Broschüre. In dem mit »Kunst und Religion« überschriebenen letzten Abschnitt heißt es:

Kunst und Religion gehörten für Hedwig wie für Eichendorff zusammen. […] Es gibt im Leben Eichendorffs noch ein eindrucksvolles Beispiel für den Zusammenhang der Musik, des Ewig-Weiblichen und der göttlichen Schönheit, ein Zusammenhang, der für Hedwig von Andechs und Joseph von Eichendorff selbstverständlich war und der auch auf ihre Umgebung ausstrahlte. Am 19. Januar 1847 bedankte sich Clara Schumann bei Eichendorff dafür, daß er ihre musikalische Matinée in Wien besucht hatte, und sie bat ihn auch im Namen ihres Mannes Robert, des Komponisten des berühmten Eichendorff-Zyklus', zum Andenken an ihre Begegnung um eine Handschrift. Die Verse, die Eichendorff daraufhin der Musikerin als einer ›Fey‹, einer Fee, die Brücken baut ins Land des Schönen, widmete, hätten auch Hedwig von Andechs entzückt. War sie doch bei aller Heiligkeit sicherlich eine schöne Frau geblieben, ganz nach Eichendorffs Herzen.

Es träumt ein jedes Hertz
Vom fernen Land des Schönen.
Dorthin durch Lust und Schmertz
Schwingt wunderbar aus Tönen
Manch’ Brücke eine Fey [Fee] –
O! holde Zauberei!


Der Vortrag wird in den nächsten Quartals-Heften des Eichendorff-Konversatoriums nachzulesen sein.

Günther Schiwy hat – ebenfalls posthum – auch den diesjährigen Eichendorff-Literatur­preis des Wangener Kreises erhalten.



Erschienen in:
»Schlesischer Kulturspiegel« 4/2008 der Stiftung Kulturwerk Schlesien, Würzburg


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