Am 10. Mai dieses Jahres, an ihrem 75. Geburtstag, wurde die aus dem schlesischen Striegau stammende Äbtissin der Bene- diktinerinnen-Abtei Frauenwörth im Chiemsee, Mater Domitilla Veith, mit einem feierlichen Pontifikalamt im Münster der Fraueninsel aus ihrem Amt verabschiedet, das sie 23 Jahre inne hatte.
Die altehrwürdige, um das Jahr 770 von Bayernherzog Tassilo III. gegründete Abtei ist neben dem Nonnenberg in Salzburg das älteste noch bestehende deutschsprachige Frauenkloster nördlich der Alpen. Die erste namentlich bekannte Äbtissin war Irmengard, eine Tochter Kaiser Ludwigs des Deutschen und Urenkelin Karls des Großen, die um die Mitte des 9. Jahrhunderts lebte, seit alters her von der Bevölkerung des Chiemgaus verehrt wird und 1928 durch Papst Pius XI. seliggesprochen wurde. Lange Zeit war die Abtei »Reichsstift«, später dann »Königliches Stift« und die Aufnahme in den Konvent den Töchtern des Adels vorbehalten. Die Abtei überstand die Stürme eines ganzen Jahrtausends, ehe sie 1803 der Säkularisation anheimfiel. Von König Ludwig I. wurde das Kloster 1837 mit der Auflage restituiert, ein Pensionat für Mädchen zu errichten; 1901 folgte die Wiedererhebung zur Abtei. Von 1913 bis 1921 war bemerkenswerterweise Hedwig von Eichendorff, Enkelin des Dichters Joseph von Eichendorff, unter dem Ordensnamen Mater Placida Äbtissin von Frauenwörth – edle Möbelstücke mit dem Eichendorffschen Familienwappen sind noch erhalten.
Der jetzt in den Ruhestand getretenen 55. Äbtissin war es beschieden, der Chiemsee-Abtei in einer Zeit des Umbruchs, der Profanisierung aller Lebensbereiche und schwindenden Interesses an einer religiösen, auf Ehe und Familie vorbereitenden Mädchenerziehung eine neue Aufgabe als Tagungs- und Bildungsstätte für Erwachsene zu weisen, sie damit wie durch kluges Wirtschaften auf eine neue tragfähige Basis zu stellen und in ihrem Bestand zu sichern.
Auf meine Bitte hat Mater Domitilla für den Schlesischen Kulturspiegel, den sie regelmäßig liest und schätzt, einen Abriß ihres Lebens gegeben und dazu ein Jugendfoto aus dem Jahr 1942 und eine Aufnahme vom Kirchgang vor Niederlegung ihres Amtes zur Verfügung gestellt.
Vita Domitilla
Am 10.5.1928 wurde ich in Striegau/Schlesien als erstes Kind der Eheleute Franz und Anna Veith geb. Müller geboren und erhielt den Namen Margit Maria. Im Abstand von wenigen Jahren folgten die Brüder Reinhard, Norbert und Helmut, von denen der jüngste noch nicht sechsjährig starb.
Einige Fenster unserer Wohnung blickten über eine breite Promenade – den einstigen Stadtgraben – hinweg auf die große von Johannitern erbaute Kirche, die das Stadtbild weithin beherrschte. So selbstverständlich, schlicht und unaufdringlich wie der Glaube in meiner Familie gelebt wurde, so prägend war der tägliche Anblick dieses imponierenden Bauwerks.
Nach vier Schuljahren in der katholischen Volksschule besuchte ich ab 1938 das Lyzeum für Mädchen, das sehr bald mit der Oberschule für Jungen zusammengelegt wurde, weil das schöne Gebäude als Lazarett gebraucht wurde. Schon am ersten Kriegstag wurde mein Vater eingezogen. Als Teilnehmer des ersten Weltkriegs kam er zwar nicht mehr an die Front, fehlte aber spürbar in der Familie, besonders als mein jüngster Bruder in seiner Abwesenheit starb. Die Haltung meiner Eltern gegenüber der Partei war eindeutig ablehnend. Wir Kinder wußten das und teilten fraglos die Haltung der Eltern.
Sehr wichtig wurde für mich ab 1939 der Religionsunterricht durch die Studienrätin Ruth Thon. Als nach dem 8. Schuljahr ein schulischer Religionsunterricht nicht mehr erlaubt war, machte sie als Oblatin der Benediktinerabtei Grüssau/Schlesien einige vertrauenswürdige Schülerinnen an Festen oder während der Sommerferien mit der Abtei Grüssau und der dort gefeierten Liturgie bekannt, ermöglichte Einkehrtage und unbeschwerte Ferienerlebnisse. Es war allen Schülerinnen bewußt, daß eine »religiöse Beeinflussung außerhalb der Schule« für diese Lehrerin Verhaftung und KZ bedeuten konnte. Sie entging den Nazis. Beim Einmarsch der Russen in Striegau im Frühjahr 1945 wurde sie mit vielen anderen für drei Jahre nach Sibirien verschleppt. Dennoch blieb sie Orientierung für viele ihrer Ehemaligen. (Im Archiv für schlesische Kirchengeschichte Bd. 43/1985 S. 29 – 73 habe ich versucht, ihren Lebensweg und ihre Wirkung auf ihre Schülerinnen nachzuzeichnen.)
Im Februar 1945 nahmen russische Truppen meine Heimatstadt ein. Martin Bojanowski, Lehrer am Striegauer Gymnasium, und Erich Bosdorf berichten darüber in »Striegau. Schicksale einer schlesischen Stadt«.
Meiner Mutter gelang es, zusammen mit mir, meinem Bruder Norbert (der andere war in der Lehre in Schweidnitz und floh mit seinem Meister), einer Cousine und deren beiden kleinen Kindern rechtzeitig die Stadt zu verlassen. Unsere Flucht führte aber nicht über Schlesien hinaus, und so kehrten wir bald nach dem Waffenstillstand in die Heimatstadt zurück. Wir wurden zum Räumen von Straßensperren und zur Feldarbeit eingeteilt, lebten von dem, was wir auf den verminten Feldern sammelten oder gegen die Reste unserer Habe bei den Galiziern umtauschen konnten, die nach Schlesien umgesiedelt wurden und zu deren Unterbringung wir aus unseren Wohnungen vertrieben wurden. Zweimal mußten alle Deutschen die Stadt binnen kurzer Zeit verlassen, mußten in Scheunen nächtigen und durften nach einer Plünderung wieder zurückkehren.
Mein Vater fand nach der Entlassung aus englischer Kriegsgefangenschaft im Herbst 1945 Aufnahme bei einem Kriegskameraden im hessischen Bad Wildungen. Mein knapp 16jähriger Bruder Reinhard war über Bayern nach Leipzig gelangt. Als ein Treck von heimkehrenden Flüchtlingen im Frühjahr 1946 einen Zettel mit der Adresse meines Vaters im Striegauer Pfarrhaus abgab, beschlossen wir, Schlesien zu verlassen. Es war inzwischen bekannt, daß die Deutschen in Eisenbahnwaggons nach Westen abtransportiert wurden. Solche Züge rollten auch durch unseren Bahnhof. Wir wollten nicht warten, bis unsere Stadt an der Reihe wäre, denn die Lebensverhältnisse waren unerträglich geworden. Wir schlugen uns bis Kohlfurt (vor Görlitz) durch, fanden dort noch Platz in einem mit Menschen dicht besetzten Viehwagen und landeten nach tagelanger Fahrt am Samstag vor Ostern in Westfalen. Von dort reisten wir weiter nach Bad Wildungen und wurden schließlich in einem etwa 12 km entfernten Dorf untergebracht.
Ich bemühte mich umgehend um Aufnahme in das Wildunger Gymnasium und durfte, obwohl ich keine Zeugnisse vorweisen konnte, die 11. Klasse besuchen. Das Abitur legte ich am Tag der Währungsreform 1948 ab und konnte im Wintersemester 1948/49 das Studium der Germanistik und Anglistik an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main beginnen. Meine Klassenlehrerin hatte mir eine Schlafstelle bei einer befreundeten Familie vermittelt und unterstützte mich durch einen monatlichen Betrag, der zur Bezahlung der Miete reichte.
Schon an Ostern 1949 nahm ich Kontakt mit der nach Wimpfen am Neckar umgesiedelten Abtei Grüssau auf und wurde 1950 Oblatin der Abtei Grüssau/Wimpfen. Die folgenden Jahre forderten neben dem Studium Erwerbsarbeit in den Semesterferien aber auch während des Semesters. Mehrere Wochen Kartoffelernte in England – nach einem Ausleseverfahren an der Uni – waren mein erster Auslandsaufenthalt, den ich nutzte, möglichst viel vom Land kennenzulernen.
Nach dem Staatsexamen ging ich zunächst für ein Jahr in die Vereinigten Staaten. Am Women`s College der Benediktinerinnen von Mt. Angel, Oregon unterrichtete ich Deutsch und dann auch Englische und Amerikanische Literatur. Während dieses Aufenthaltes entschied ich mich für den Eintritt in die Abtei Frauenwörth, die ich bis dahin nicht besucht hatte und von der ich außer der Lage auf der Insel und der Existenz einer Schule nichts wußte.
Drei Wochen nach der Rückkehr aus den USA trat ich am 5.10.1956 in Chiemsee ein, ging von dort an Ostern 1957 zur Referendarzeit nach Fulda, begann nach deren Abschluß 1959 das eigentliche Noviziat in Frauenchiemsee. Bei der Einkleidung am 31.05.1959 erhielt ich den Ordensnamen Maria Domitilla. Nach einem Jahr Noviziat und drei Jahren zeitlicher Profeß legte ich am 4.6.1963 ewige Profeß ab. Da die klösterliche Direktorin des 6-klassigen Gymnasiums verstorben war, wurde mir mit Beginn des neuen Schuljahrs 1963 die Schul- und Heimleitung übertragen, die ich bis zu meiner Wahl zur Äbtissin am 5.1.1980 inne hatte. Am 10. Februar 1980 erteilte mir Kardinal Ratzinger die Äbtissinnenweihe.
Bald standen wichtige Entscheidungen an: Aus zeitbedingten Gründen wurde es nötig, das Klostergut auf dem Festland zu verpachten und die Schul- und Erziehungstätigkeit der Abtei schrittweise einzustellen. 1983 wurde das Gymnasium geschlossen, bis 1995 wurden auch die Berufsfachschule und die Berufsaufbauschule abgebaut. Bürgermeister der Umgebung und Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft gründeten 1993 aus eigener Initiative einen Freundeskreis, der sich bemühte, dem Kloster bei der Umstellung auf neue Arbeitsbereiche beizustehen. Herr Alois Glück, MdL und Vorsitzender der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag, übernahm den Vorsitz dieses Freundeskreises, mit dessen Hilfe die ehemaligen Schul- und Internatsräume schrittweise in ein Haus für Erwachsenenbildung umgewandelt werden konnten. Ein mit Hilfe der Diözese eingerichteter Klosterladen und die verpachtete Klostergaststätte bilden zusammen mit dem Bildungshaus die wirtschaftliche Existenzgrundlage der Abtei.
Die Wahl einer Äbtissin erfolgt auf unbestimmte Zeit. Bedeutete dies früher einmal auf Lebenszeit, so ist seit dem 2. Vatikanischen Konzil für Bischöfe und Äbte eine Altersgrenze vorgesehen. In der Föderation Bayerischer Benediktinerinnen ist der Amtsverzicht mit Vollendung des 75. Lebensjahres üblich geworden. Diesem Beispiel folgend habe ich mein Amt an meinem 75. Geburtstag niedergelegt.
Einige Eintritte jüngerer und fähiger Frauen und die gestiegene Lebenserwartung der älteren Generation lassen hoffen, daß die 1200jährige Geschichte der Abtei auch in unserer Zeit weitergeht.
Die Stiftung Kulturwerk Schlesien gratuliert der Jubilarin auf diesem Weg herzlich zu ihrer Lebensleistung im Dienst der Kirche, ihrer Ordensgemeinschaft und am Nächsten und wünscht für die bevorstehende »Zeit ohne Termine«, daß sie sich noch lange guter Gesundheit und der Früchte ihrer Arbeit erfreuen sowie in Ruhe all das auskosten kann, was an englischer, deutscher und insbesondere schlesischer Literatur auf ihrem Vormerkzettel steht.
Erschienen in:
»Schlesischer Kulturspiegel« 3/2003 der Stiftung Kulturwerk Schlesien, Würzburg