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St. Annaberg


    Sankt Anna, voll der Gnaden,
    du Bild der Heiligkeit.
    Gepriesen sei dein Name,
    jetzt und in Ewigkeit.

So beginnt ein in Schlesien von alters her gesungenes Kirchenlied, das neuerdings auch am St. Annaberg wieder in unserer Sprache erklingt.


    Du bist für uns, jahrtausendalt, der Wächter,
    der nimmermüde, überm Oderland,
    du Hort der Treue, Flammenmal der Fechter,
    wenn je Gefahr vor unsern Toren stand.

So huldigte man in nationalsozialistischer Zeit dem durch die Volkstumskämpfe nach dem Ersten Weltkrieg »geheiligten Berg« Oberschlesiens. Zwei Stimmen zum St. Annaberg, die das Spannungsverhältnis der Gefühle zum Ausdruck bringen, die sich mit diesem Ort verbinden.

Angeregt durch eine Studienfahrt der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit und der Akademie für Lehrerfortbildung Dillingen nach Böhmen und Schlesien vor zwei Jahren, schloß ich mich im September 1989 erneut einer Reisegruppe an, die im Rahmen der bayerischen Lehrerfortbildung diesmal vorzugsweise Oberschlesien und die östlich angrenzenden Landesteile Polens erkundete. Ein Höhepunkt der Reise war der St. Annaberg (jetzt Góra Swietej Anny), »das religiöse und politische Wahrzeichen Oberschlesiens, einstmals für die Deutschen, heute auch für die Polen«. In den Blick der Öffentlichkeit rückte der Ort bei uns durch die Irritationen um das Besuchsprogramm des Bundeskanzlers bei seiner Staatsvisite in Polen im November 1989. Man erreicht den St. Annaberg am bequemsten auf dem Weg von Breslau (Wroclaw) ins oberschlesische Industrierevier. Die Wallfahrtsstätte zur Mutter Anna, der Mutter Mariens, liegt etwa 30 km südöstlich von Oppeln (Opole), der früheren Hauptstadt der Provinz Oberschlesien, heute Verwaltungszentrum der gleichnamigen Wojewoschaft und Bischofssitz. Der St. Annaberg markiert auch geographisch die Mitte des Landes, das von vier Städten aufgespannte Geviert mit Kreuzburg (Kluczbork) im Norden, Ratibor (Racibórz) im Süden, Beuthen (Bytom) im Osten, Neisse (Nysa) im Westen.

Wir folgten nicht der beschriebenen kürzesten Route zum St. Annaberg, sondern näherten uns ihm über Schweidnitz (Swidnica) und Neisse in einem weiten Bogen entlang der Sudeten. Der Ort Kreisau mit dem ehemaligen Gut des Grafen von Moltke liegt auf dieser Strecke, und man konnte die Veränderungen gegenüber dem Vorjahr wahrnehmen, die schon auf größere Ereignisse hindeuteten. Sehenswerte Städte reihen sich »im Kranz blauer Berge« aneinander, die im Kern viel von ihrem früheren Aussehen bewahren konnten – bis auf Neisse, wo die Brandfackel des Krieges fürchterlich gewütet hat. Mit Neisse verbindet sich die Erinnerung an Eichendorff, der hier ein spätes Zuhause und eine über die Stürme der Zeit hinweg in Ehren gehaltene Grabstätte gefunden hat.

Weiter geht es durch fruchtbares bäuerliches Hügelland, das langsam abebbt, der Oder zu. Anders als in weiten Landstrichen Niederschlesiens herrschen hier die kleinbäuerlichen Betriebe vor. Insgesamt sollen sich in Polen über drei Viertel der Landwirtschaft in privater Hand befinden. Bei einem Halt in einem Straßendorf mit schmucken Häusern und gepflegten Vorgärten (die Schwester eines aus dieser Gegend stammenden Kollegen wohnt noch hier) die Überraschung: Die Ortschaft ist zu über 90% von Deutschen bewohnt. Ähnlich verhält es sich, wie wir erfahren, in zahlreichen Ortschaften im Oppelner Land beiderseits der Oder – ein Ausdruck der Heimatverbundenheit der Oberschlesier, vor allem des ländlichen Bevölkerungsteils. Am kulturellen Leben des Westens nehme man vorwiegend über den österreichischen Rundfunk teil, der gut empfangen werden könne. Obwohl man die Geschicke der Gemeinde weitgehend selbst bestimme, würde den Bemühungen um den Aufbau deutscher Kulturverbände polnischerseits immer noch sehr reserviert begegnet. An den Polenbesuch des deutschen Bundeskanzlers knüpften sich deshalb hohe Erwartungen. Nachträglich kommen einem die Bilder mit den Transparenten in den Sinn, die dem Bundeskanzler auf dem Gutshof in Kreisau entgegengehalten wurden.

Seit dem 4. Juni 1989 habe man wenigstens einen deutschsprachigen Sonntags-Gottesdienst auf dem etwa 30 km entfernten St Annaberg – ein Geschenk des Bischofs Nossol aus Oppeln. Man fahre regelmäßig in Bussen dorthin. Bischof Nossol, der auch den Feldgottesdienst in Kreisau zelebriert und die Predigt gehalten hat, ist es zu danken, daß die im Neisser Priesterseminar für den Dienst in einer Diözese mit starkem deutschen Bevölkerungsanteil ausgebildeten Geistlichen seit einiger Zeit die deutsche Sprache lernen. Keine Selbstverständlichkeit in einem Land, in dem das Deutsche bis vor kurzem aus dem öffentlichen wie dem kirchlichen Leben verbannt war. Bei dem Städtchen Krappitz (Krapkowice) an der Mündung der Hotzenplotz geht es über die Oder. Flußaufwärts eine sanfte Erhebung des das Tal begrenzenden Höhenrückens, ein Waldschopf mit hellen Tupfen: der St. Annaberg und die ihn bekrönende Wallfahrtskirche samt Klostergebäuden. Auch er sagenumwoben, wie der andere »heilige Berg« Schlesiens, der das Sudetenvorland bei Schweidnitz und Kreisau beherrschende Zobten. Gemächlich steigt die Straße vom Odertal an, immerhin über 200 m Höhenunterschied überwindend. Eine herrliche Aussicht eröffnet sich in die Weite des Landes, getrübt allerdings durch die Ausdünstungen einer gewaltigen Industrieansiedlung zu Füßen des Berges, die sich zu einer ganzen Stadt ausgewachsen hat – Deschowitz (Zdzieszowice). Die Ortschaft St. Annaberg schmiegt sich einer Halskrause gleich um den bewaldeten Berghelm, und darüber erhebt sich die Klosterkirche mit ihren beiden auf dem Dachfirst sitzenden Türmen. Chelm hieß der Berg früher; auf einer alten Karte, die mir unlängst in die Hände fiel, ist er als St. Georgenberg eingezeichnet. Zur Verehrung in alter Zeit trug wohl auch das überraschende Basaltvorkommen bei; die Kuppe des 410 m hohen Berges besteht aus diesem vulkanischen Gestein.

Der große Parkplatz zu Füßen des Klosters ist leergefegt, und auch die Verkaufsbuden sind der fortgeschrittenen Stunde wegen bereits geschlossen. Patres in franziskanischem Gewand kommen uns auf der steilen Steintreppe entgegen, sprechen uns auf deutsch an mit dem mir vertrauten oberschlesischen Akzent und ermuntern uns, weiterzugehen. Durch einen weiten Torbogen betritt man einen gepflasterten quadratischen Hof, den sogenannten Paradieshof. Bäume auch hier, schon herbstlich gelichtet. In der Mitte eine Kreuzigungsgruppe aus Stein, an der vorbei es links zum Kirchenportal und rechts zur Klosterpforte geht. An drei Seiten des Hofes Arkaden mit einer großen Zahl von Beichtstühlen – ich zähle 15 – die offenbar nötig sind, um dem Ansturm der Wallfahrer Herr zu werden. Horst Bienek, der im nahen Gleiwitz (Gliwice) aufgewachsene Schriftsteller, schildert in seinem Erinnerungsbuch »Reise in die Kindheit« stimmungsvoll seine jugendlichen Wallfahrtserlebnisse.

Die Kirche ist erleuchtet. Im Auszug des Hochaltars, umgeben von einem Strahlenkranz, befindet sich das die Wallfahrt zur Mutter Anna begründende Gnadenbild: eine den liturgischen Zeiten und Festen entsprechend gewandete, etwa einen halben Meter hohe Holzfigur in der bekannten Anna-Selbdritt-Darstellung. Die heilige Anna hält zwei Kinder in den Armen, im linken ihre Tochter Maria, im rechten das Jesuskind. Alle drei sind bekrönt. In den Kopf der Statue soll eine Reliquie der heiligen Anna eingelassen sein.

Die Verehrung der heilige Anna stand, von der Ostkirche ausgehend, im späten Mittelalter auch im Abendland in hoher Blüte. Insbesondere die Bergleute erkoren sie – neben der hl. Barbara – zu ihrer Schutzpatronin. Mancher Ort in Gegenden des Erzbergbaus leitet hiervon seinen Namen ab, beispielsweise Annaberg im Erzgebirge. Über den sächsischen Herzogshof kam auch die Reliquie nach Schlesien, ist der Chronik zu entnehmen; ein Landeshauptmann von Neisse führte sie zu Anfang des 17. Jhdt. mit dem Gnadenbild aus dem 15. Jahrhundert zusammen. Dies hatte mit der sich rasch verbreitenden Kunde von Gebetserhörungen und »Wundertaten« ein starkes Anwachsen des Pilgerstroms zur Folge.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg nahmen sich Franziskanerpatres aus Gleiwitz der Wallfahrt an; bald trat die heutige barocke Gnadenkirche an die Stelle der kleinen St-Anna-Kapelle, und Mitte des 18. Jhdt. konnte der angefügte stattliche Klosterbau bezogen werden. Die größten Verdienste um den St. Annaberg und seine Ausgestaltung zum Mittelpunkt des katholischen Oberschlesien hat sich über mehrere Generationen hinweg die schlesische Adelsfamilie der Grafen von Gaschin erworben. Ihnen ist auch die Anlage der sogenannten »Kalvarie« zu danken, eine in die wellige Landschaft im Osten und Norden des Klosterberges eingefügte einzigartige Nachbildung der Leidensstätten Jesu in Jerusalem mit über 30 Kapellen, welche das gläubige Volk in feierlicher Prozession unter Anleitung der Geistlichen aufsucht. Dieses »neue Jerusalem«, wie es wegen seiner überraschenden Ähnlichkeit mit dem Vorbild im Heiligen Land genannt wird, ist ein bevorzugtes Ziel der von nah und fern – auch aus Polen sowie aus Böhmen und Mähren – kommenden Pilgerzüge.

Der jetzige Pater Guardian des Klosters kommt aus dem eingangs genannten Beuthen, einer Nachbarstadt von Gleiwitz, und spricht wie selbstverständlich Deutsch. Dreimal, sagt er, seien die Franziskaner schon vom St. Annaberg vertrieben worden: das erste Mal durch die Säkularisation, dann zur Zeit des preußischen Kulturkampfes und schließlich im Zweiten Weltkrieg, wo die klösterlichen Räume zur Unterbringung von rumänischen Volksdeutschen requiriert wurden. Seit 1945 sei man wieder hier, und seit einiger Zeit habe die schlesische Ordensprovinz, die er noch vor einem Jahr von Breslau aus leitete, aushilfsweise das Kloster Marienweiher im Frankenwald übernommen sowie je eine Pfarrei in Nürnberg und Grafrath bei München. Unversehens scheint der Westen Missionsgebiet des Ostens geworden.

Die 1989 eingeführten deutschsprachigen Gottesdienste am Sonntagnachmittag erfreuten sich großen Zuspruchs. Mit Hilfe der Deutschen Bischofskonferenz sei inzwischen in Augsburg ein deutsch-polnisches Gebet- und Gesangbuch »Der Weg zum Himmel« erschienen, von dem innerhalb kurzer Zeit mehrere tausend Exemplare unter die Gottesdienstbesucher gebracht wurden. Man bereite im übrigen einen Kurzführer über den Gnadenort in deutscher Sprache sowie einen Bildband vor.

Zum Verständnis der »zweiten Seite« des St. Annaberges ein historischer Rückblick: Zum politischen Wahrzeichen Oberschlesiens wurde der Berg nach dem Ersten Weltkrieg. Die an Bodenschätzen reiche Provinz Oberschlesien sah sich unversehens in der Rolle eines Spielballs der Siegermächte. Anders als die übrigen an ein wiedererstandenes unabhängiges Polen abzutretenden Gebiete im Osten des Deutschen Reiches war Oberschlesien nicht etwa im Zuge der polnischen Teilungen an Preußen gefallen. Es bildete mit Niederschlesien seit Jahrhunderten eine Einheit, unterschied sich von diesem aber durch seine Zweisprachigkeit (und das vorherrschende katholische Bekenntnis seiner Bevölkerung). Eine Konfrontation zwischen den beiden Sprachgruppen hatte es, bevor politisches Kalkül die nationalen Emotionen entfachte, nicht gegeben. Nach dem Friedensvertrag von Versailles sollte über die Zugehörigkeit Oberschlesiens zu Deutschland oder zu Polen durch eine Volksabstimmung entschieden werden. Dabei ausgespart blieben einige rein deutsche Gebiete im Westen des Landes (beispielsweise der Kreis Neisse). Das Plebiszit fand am 20. März 1921 unter Aufsicht einer interalliierten Kommission statt (bei der auch die Regierungsgewalt über die Provinz lag) und erbrachte insgesamt eine 60%ige Mehrheit für den Verbleib bei Deutschland. Einige Landkreise hatten jedoch mehrheitlich für Polen votiert. Die Alliierten waren sich deshalb nicht einig, welche Schlußfolgerungen aus diesem Abstimmungsergebnis zu ziehen wären, zumal die von Landgemeinden mit polnischer Mehrheit umschlossenen Stadtkreise sich allesamt für Deutschland ausgesprochen hatten.

In dieser Situation bemächtigten sich polnische Verbände – deutscherseits Insurgenten genannt – mit Waffengewalt des Gebietes rechts der Oder und versuchten, vollendete Tatsachen zu schaffen. In der Reihe polnischer Aufstände in Oberschlesien war das der dritte. Als Anführer trat der ehemalige Reichstagabgeord-
nete Korfanty hervor. Der das Land weithin beherrschende St. Annaberg wurde Hauptstützpunkt der Aufständischen. Die deutschen Truppen hatten das Abstimmungsgebiet geräumt, die (überwiegend von Frankreich gestellten) Besatzungstruppen hielten sich zurück. In aller Eile bildeten sich Freiwilligenverbände aus ehemaligen Wehrmachtsangehörigen, aber auch vielen Studenten, und schlossen sich zum »Selbstschutz Oberschlesien« zusammen. Vom Oderstädtchen Krappitz aus setzten die Verbände zum Gegenangriff an. Eine Schlüsselrolle kam dabei der Erstürmung des St. Annaberges am 21. Mai 1921 zu; an den verlustreichen Kämpfen war das »Freikorps Oberland« aus Bayern maßgeblich beteiligt. Die Abtrennung eines Viertels von Oberschlesien (darunter der größte Teil der Gruben- und Hüttengegend), wie sie der schließlich um Rat gefragte Völkerbund in einem umstrittenen Gutachten vorschlug (Genfer Schiedsspruch), konnte dadurch bekanntlich nicht verhindert werden.

Der St. Annaberg wurde in der Folge zum Symbol des Selbstbehauptungswillens der Oberschlesier. Die Nationalsozialisten
vereinnahmten den errungenen Sieg »als die letzte Schlacht des Weltkriegs und die erste des deutschen Erwachens«. Bald nach ihrer Machtergreifung wurde begonnen, den Geländeeinschnitt westlich des Berges mit seinen mächtig hervortretenden Kalksteinwänden zu einer »Feierstätte der Schlesier« umzugestalten, einer amphitheaterartigen Anlage mit etwa 50 000 Plätzen. Auf der steil hinter der Spielfläche aufragenden Felswand, in Blickrichtung zum Kloster, errichtete der Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge in den Jahren 1936 bis 1938 ein »Reichsehrenmal der Deutschen Freikorpskämpfer«, einen gedrungenen Rundbau im Stil normannischer Wehrtürme, in dem die Särge von 50 am St. Annaberg Gefallenen Aufnahme fanden.

Was ist aus Feierstätte und Ehrenmal geworden? Ein polnisches Denkmal nimmt die Stelle des nach 1945 gesprengten deutschen ein. Auf massivem zweistufigen Sockel erheben sich vier quaderförmige, durch Querbalken überbrückte Säulen – ein aus der Ferne einem großen Torbau ähnelndes Gebilde. Die Flachreliefs an den Säulen sollen – man kann es des angebrachten Gerüstes wegen nur schlecht erkennen – den jahrhundertelangen Kampf des Polentums gegen die Germanisierung symbolisieren, ein bei Denkmälern im Land häufig anzutreffendes Motiv. Auf einem in den Boden eingelassenen Stein steht (hoffentlich richtig übersetzt): »Hier auf polnischer Erde ehrt Polen den unvergeßlichen Tag des schlesischen Aufstandes« ... Zu Füßen des Ehrenmals, im Halbrund der Feierstätte, ist die Natur dabei, ›verlorenes Terrain‹ zurückzugewinnen.

An den Besuch des St. Annaberges schloß sich eine interessante Begegnung mit einem im Deutschen Freundschaftskreis (DFK) engagierten Ingenieur an, der sich seit Jahren für die Belange der deutschen Volksgruppe einsetzt. Es stellte sich heraus, daß er mit dem Erfolgsautor Janosch die Schulbank gedrückt hat. Er berichtete von etwa 15 bestehenden Ortsgruppen, deren Vertreter sich regelmäßig träfen, und von einer im Frühjahr 1989 eingeleiteten Unterschriftensammlung aller sich zum Deutschtum bekennenden Oberschlesier. Über 250 000 hätten sich bereits in die Listen eingetragen, die Gefahr von Repressalien nicht scheuend; denn in Polen gebe es, wie der Staatspräsident und der Primas der Katholischen Kirche und andere wiederholt betont haben, keine deutsche Minderheit. Formal sei das durchaus richtig, wenn man bedenkt, daß den in ihrer angestammten Heimat verbliebenen Deutschen nach dem Krieg ein Treuebekenntnis zum polnischen Staat abverlangt wurde. Viele hätten in den letzten Jahren auf Grund der aussichtslosen Lage das Land schon verlassen, auch eine seiner Töchter mit Familie sei darunter. Er wünsche sich, daß die im Vorfeld des Kanzlerbesuchs sich abzeichnenden Verbesserungen für die Deutschen nicht zu spät kämen.

Das größte Problem sei die Erhaltung der deutschen Sprache bei der jungen Generation. In den Wojewodschaften Oppeln und Kattowitz (Katowice), also gerade dort, wo besonders viele Deutsche leben, sei es in den Schulen immer noch nicht möglich, Deutsch zu lernen. Das habe wiederum zur Folge, daß Kinder aus deutschen Familien nicht in den Schüleraustausch mit der Bundesrepublik Deutschland einbezogen würden. Es fehle vor allem an Büchern und an Deutschlehrern. Vorbildlich erscheine ihm hier unser Engagement gegenüber Ungarn. Auch eine Unterstützung bei der Ausbildung von einheimischen Deutschlehrern wäre wichtig. Man habe im übrigen bereits begonnen, deutsche Bibliotheken aufzubauen und denke daran, eine deutschsprachige Kulturzeitschrift herauszubringen. Hilfen hierbei wären höchst willkommen. Ein sehnlicher Wunsch vieler sei es außerdem, deutsche Gottesdienste in Wohnortnähe feiern zu können.

Durch den inzwischen erfolgten Besuch des Bundeskanzlers in Polen und die dabei mit dem polnischen Ministerpräsidenten unterzeichnete »Gemeinsame Erklärung« wurde der Boden für ein gedeihliches Zusammenwirken beider Seiten bereitet. Eine Delegation des DFK, der auch unser Gesprächspartner angehörte, konnte ihre Anliegen und Vorstellungen dem Bundeskanzler in Warschau sogar persönlich vortragen. Die Bundesregierung hat ihren Beitrag zur Verwirklichung der Ziele zugesichert. Auch die Länder in der Bundesrepublik sind dabei gefordert. Neben den nötigen staatlichen Hilfen scheinen mir aber auch private Initiativen gefragt. Einen verdienstvollen Beitrag könnten hier unsere Schulen leisten, durch Partnerschaften, durch Bereitstellung (ordentlicher, nicht ausgemusterter) Bücher, durch aktuelle Zeitschriften u. a. m. Schließlich müßte es aber auch und gerade den beiden Kirchen, die sich schon vor Jahren die Hand zur Versöhnung gereicht haben, am Herzen liegen, daß die Gläubigen in der Sprache ihres Herzens beten und singen könnten.

Einiges ist seither in Bewegung gekommen. So berichteten die Zeitungen kürzlich über die Anerkennung einer »Sozial-kulturellen Gesellschaft der Menschen deutscher Volkszugehörigkeit in der Wojewodschaft Kattowitz« sowie die sich darauf abstützende Einrichtung eines ersten Kulturzentrums der deutschen Minderheit in Hindenburg (Zabrze). Beachtung fand ferner die Kandidatur eines Deutschstämmigen aus dem Bezirk Oppeln zum Senat in Warschau, der auf Anhieb beinahe 40 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Der deutschen Volksgruppe kommt bei der sich anbahnenden Zusammenarbeit mit Polen sowie für die Überwindung der sprachlichen Barrieren und anderweitigen Hindernisse einer Verständigung eine wichtige Vermittlerrolle zu.

Alles braucht seine Zeit. Das gilt besonders für das durch die Vergangenheit schwer belastete deutsch-polnische Verhältnis. So verständlich die Betroffenheit vieler über den nicht zustandegekom-
menen St.-Annaberg-Besuch des Bundeskanzlers und die Tabuisierung des Ortes ist, als Gast hat man in erster Linie auf die Gefühle der Gastgeber Rücksicht zu nehmen. Ein Besuch des St. Annaberges zum damaligen Zeitpunkt wäre, glaube ich, unweigerlich mit einem Gesichtsverlust für die Gastgeber verbunden gewesen. Hatten sich in Kreisau trotz weiter Wege und Benzinknappheit mehrere tausend Deutsche eingefunden, so wären es im Zentrum der deutschen Siedlungen in Oberschlesien Zehntausende gewesen, welche die Behauptung von der Nichtexistenz einer deutschen Minderheit in Polen vor der Weltöffentlichkeit Lügen gestraft hätten.

Die Zeit dürfte über die bestehenden Vorbehalte hinweggehen. Vielleicht wird sich das schon beim demnächst stattfindenden Staatsbesuch des Bundespräsidenten in Polen zeigen.

Andererseits gibt es in Schlesien neben der heiligen Anna noch eine zweite Heilige, die die religiösen Gefühle des Volkes – der Deutschen wie der Polen – in ähnlicher Weise anspricht: die heilige Hedwig aus dem Geschlecht der Grafen von Andechs, Herzogin von Schlesien und Polen, die in Schlesien gelebt hat und hier begraben ist und als Schutzpatronin des Landes verehrt wird. Die Begräbnisstätte der Heiligen, das Zisterzienserinnen-Kloster Trebnitz (Trzebnica) in der Nähe von Breslau, wäre ein die Gemüter weniger erregender Ort, aber gleichwohl ein Ort von hoher Symbolkraft. Gilt die heilige Hedwig doch als »die größte Wohltäterin des polnischen Volkes im 13. Jahrhundert« und als »Mittlerin zwischen West und Ost«.






Erschienen in:
»Der Staatsbürger« 5/1990, Beilage der Bayerischen Staatszeitung, München




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