Kreisau - ein kleiner Ort in Schlesien mit klangvollem Namen, der in die Geschichte eingegangen ist. Hier auf dem Gut des jungen Helmuth James Graf von Moltke, einem Nachfahren des preußischen Generalstabschefs der Bismarck-Ära, traf sich in den Jahren von 1940 bis 1943 in kleineren und größeren Gruppen mehrfach ein Kreis von Persönlichkeiten unterschiedlicher Herkunft und Stellung, einig in seiner Gegnerschaft zum Hitler-Regime, um über die Gestaltung eines »anständigen Deutschlands« nach Hitler nachzudenken. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat den Initiator und Mittelpunkt jenes Kreisauer Kreises die »Seele des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus« genannt. Und der amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan urteilt über ihn: »Für mich ist Moltke eine so große moralische Figur und zugleich ein Mann mit so umfassenden und geradezu erleuchteten Ideen, wie mir im Zweiten Weltkrieg auf beiden Seiten der Front kein anderer begegnet ist.«
Dieses Kreisau, heute zur Volksrepublik Polen gehörend und in Krzyzowa umbenannt (was soviel wie Kreuzung heißt), war eine der Stationen einer Studienreise nach Böhmen (CSSR) und Schlesien, die Ende Oktober 1988 von der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit München zusammen mit der Akademie für Lehrerfortbildung Dillingen veranstaltet wurde. Der Ort liegt am Nordrand des Eulengebirges, einem über 1000 m ansteigenden Teil des die Grenze zwischen Böhmen und Schlesien bildenden Gebirgszugs der Sudeten, nahe der Stadt Schweidnitz (heute Swidnica), 60 km südwestlich der ehemaligen Landeshauptstadt Breslau (heute Wroclaw). Kreisau sollte auf der Rückreise von Breslau nach Prag aufgesucht werden; ein kurzer Abstecher nur von der alten Handels- und Heerstraße zwischen Schlesien und Böhmen über Schweidnitz (bekannt durch das früher hier gebraute und im Breslauer Ratskeller ausgeschenkte Bier), Glatz (mit seinen friderizianischen Festungsbauten) und Königgrätz (wo auf den Schlachtfeldern des Krieges von 1866 unter der Führung des Feldherrn Moltke schon einmal die Weichen für Deutschlands Zukunft gestellt wurden).
»Die Rosse scharrten vor der Eilpost, die nach Glatz führt. Ich nahm meinen Platz; es regnete - ich schied wehmütig von Breslau. Die blauen Berge, wohin es mich mit kindischem Verlangen zog, waren in grauen Nebeldunst gehüllt. Wir fuhren hinaus zwischen den altersgrauen Häusern die Landschaft öffnete sich, das Wasser rieselte vom Himmel, Dunst verschleierte jede Fernsicht; nur manchmal flog ein Sonnenstrahl über die Landschaft wie das Lächeln einer schmollenden Geliebten. Rechts und links gesegnete Fluren, reinliche Dörfer weithin verstreut, niedrige Hügelketten, frische Baumgruppen.« So schildert ein Schriftsteller um die Mitte des vorletzten Jahrhunderts seine Eindrücke von der Fahrt auf gleicher Strecke in einer seinerzeit mit den Wander- und Reiseführern Karl Baedekers um die Gunst der Leserschaft wetteifernden Beschreibung des malerischen und romantischen Deutschland.
Man nimmt auch heute nicht ohne Wehmut Abschied von Breslau, in die sich Betroffenheit und Trauer über das Gesehene und Geschehene mischen. Das Bild der beiden Turmstümpfe des Doms in einem herbsttrüben, wolkenverhangenen Himmel hat sich tief eingeprägt und auch die in Stein gemeißelte Mahnung aus einem der Säle des Rathauses, das den Feuersturm des Krieges wie durch ein Wunder unversehrt überstanden hat: »Glücklich die Stadt, welche im Frieden den Krieg fürchtet - unglücklich die Stadt, welche im Frieden den Krieg herbeiwünscht.« Die polnische Reisebegleiterin, eine Studentin aus Allenstein im ehemaligen Ostpreußen, ist in Breslau zurückgeblieben. Die Gedanken gehen voraus: Würden wir ohne sie in Kreisau überhaupt etwas zu sehen bekommen, und welche Erwartungen verbinden wir eigentlich mit dem Besuch?
Es ist Samstag, doch die gut ausgebaute Ausfallstraße ins nahe Gebirge ist, wie alle Straßen des Landes, kaum befahren - eine Folge der verhängten Benzinrationierung und der hohen Anschaffungskosten eines Fahrzeugs. Wohlbestellte Felder dehnen sich beiderseits der Straße soweit das Auge reicht, zu Staatsgütern gehörend, die hier auf der »Herrenseite« der Oder die vorgefundene Grundbesitz-Struktur weitgehend ungeändert übernehmen konnten. Auch Flugzeuge zur Schädlingsbekämpfung sieht man im umfangreichen Maschinenpark dieser Güter und erinnert sich der Schlagzeilen über die mit ihnen wiederholt auf »Westkurs« gegangenen Landarbeiter. Zu einem der zahlreichen sogenannten Rittergüter früherer Zeit in dieser Gegend gehört auch der Ruhesitz Marschall Blüchers, des legendären Heerführers in den Befreiungskriegen gegen Napoleon, die in Schlesien ihren Ausgang nahmen. Mit ihm kämpfte der durch die Konvention von Tauroggen und das damit angebahnte Bündnis mit Rußland bekannte General von Yorck. Für seine militärischen Verdienste wurde er mit großen Besitzungen 40 km Oder-aufwärts in Klein-Oels ausgestattet, in den Grafenstand erhoben und nach dem Ort des von ihm erkämpften wichtigen Elbübergangs durch den Namenszusatz »von Wartenburg« geehrt. Das Blüchersche Schloß soll heute ein vom Landeskonservator geschütztes Baudenkmal sein.
Bald steigt aus der einförmigen Landschaft die Kuppe eines Bergstocks auf: der zum Wahrzeichen Schlesiens gewordene vielbesungene Zobten (heute Sleza). Von einem auf ihm, 500 m über der Ebene gelegenen Stammesheiligtum der germanischen Silingen soll Schlesien seinen Namen herleiten; andererseits übernahmen die deutschen Siedler im 14. Jahrhundert wohl den Namen des Ortes Zobten vom slawischen »Sobota« = Sonnabend - ein Symbol für die unbefangene »gegenseitige Durchdringung von Slawen und Deutschen, die den langen Ablauf der schlesischen Geschichte kennzeichnet« (Ernst Birke). An der Straße liegt Wernersdorf, wo der junge Moltke anläßlich einer Tauffeier bei seinem Vetter Adolf von Moltke - früher Botschafter in Warschau - im Jahr 1938 erstmals mit Peter Graf Yorck von Wartenburg zusammentraf (wie dessen Witwe, Marion Gräfin Yorck von Wartenburg, in ihrem Erinnerungsbuch »Die Stärke der Stille« schreibt). Aus dieser Bekanntschaft und Freundschaft beider und ihrer späteren Zusammenarbeit erwuchs bekanntlich der Kreisauer Kreis. Schloß Wernersdorf gehört dem Vernehmen nach zu den Anlagen, die durch Erwerb von privater Hand oder von Großbetrieben und durch eine zeitgemäße Nutzung vor dem Verfall bewahrt werden.
Ein Stück des Weges nach Schweidnitz begleitet uns hoch in den Lüften ein Zug von Kranichen in typischer Keilformation - ein für unsere Augen ebenso ungewohntes wie faszinierendes Schauspiel. Dann taucht schon der Turm der Schweidnitzer Stadtpfarrkirche auf, mit seiner mehrfach durchbrochenen spitzen Haube an den Turm des Breslauer Rathauses erinnernd und ihn übertreffend, der höchste Kirchturm Schlesiens. Ein zweites von Frömmigkeit und Opfersinn der Bevölkerung kündendes Bauwerk findet sich in der Stadt: eine von insgesamt drei den Protestanten in Schlesien nach dem Dreißigjährigen Krieg zugestandenen Kirchen in Fachwerkbau-
weise, innen ganz aus Holz gefügt; die »Friedenskirche« in Schweidnitz ist mit etwa 3000 Sitzplätzen und 4500 Stehplätzen die wohl größte europäische Kirche dieser Art. Bemerkenswert, daß die Erklärungen auf den hier erhältlichen Ansichtskarten erstmals auch in deutscher Sprache abgefaßt sind.
In Schweidnitz verlassen wir die in das Waldenburger Industrierevier (Waldenburg heißt heute Walbrzych) weiterführende Straße, die wir wenige Tage zuvor von Hirschberg (Jelenia Góra) und den Abhängen des Riesengebirges her gekommen waren, vorbei an verfallen und aufgegeben wirkenden Gehöften, durch dichten Qualm unzähliger Fabrikschlote und schwelender Herbstlaub-Feuer. Gerhart Hauptmann, der letzte große Dichter Schlesiens, bei dessen Haus Wiesenstein im Riesengebirge wir waren, stammt aus dem Waldenburger Land. Viele seiner Werke sind in der näheren und weiteren Heimat angesiedelt. Die Not der Weber und ihr Aufstand im nahen Eulengebirge, denen er in seinem bekannten Schauspiel ein ergreifendes Denkmal gesetzt hat, standen ihm durch die Erzählung seines Großvaters vor Augen, der in jungen Jahren selbst hinterm Webstuhl saß. Für den jungen Moltke und andere spätere »Kreisauer« waren die bedrückenden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in diesem Raum nach dem Ersten Weltkrieg Anlaß, sich für die Verbesserung der Lage der Arbeiter und Bauern einzusetzen und zur Überbrückung der Gegensätze der verschiedenen sozialen Gruppen beizutragen. So gelang es beispielsweise dem 21-jährigen, für einige Projekte die finanzielle Unterstützung des Reichstagsabgeordneten für Waldenburg, des späteren Reichskanzlers Heinrich Brüning, zu finden.
Wir folgen der Straße Richtung Reichenbach (Dzierzoniow) am Fuße des Eulengebirges, biegen nach wenigen Kilometern von ihr ab und stehen kurze Zeit später vor der Einfahrt zu einem großen Gutshof, dem früheren Besitz der Familie Moltke, heute landwirtschaftlicher Staatsbetrieb. Mit den verstreut liegenden kleineren Anwesen bildet er die Ortschaft Kreisau. Die in einem Geviert von etwa 150 m auf 150 m angeordneten Gebäude überragt ein von alten Bäumen umstandener massiger Bau mit schiefergedecktem Mansardwalmdach. Beim Nähertreten löst sich der Bau aus der Reihe von Wirtschaftsgebäuden; es muß das Gutshaus sein - in Schlesien auch im Falle schlichter Ausführung »Schloß« genannt. Auf dem Hof scheint Mittagsruhe zu herrschen. Wir können uns ungehindert umsehen. Der Verwalter sei auswärts, heißt es.
Das Haus befindet sich in einem trostlosen Zustand: zerschlagene Fenster, Löcher im Dach,
durchgerostete Regenrinnen, Wasserschäden am Mauerwerk, abfallender Verputz. Niemand scheint sich darum zu kümmern. Einen Eindruck vom Glanz vergangener Tage vermittelt noch der stattliche Treppenaufgang aus Stein, von einem geschmiedeten Gitter gesäumt, und das von Säulen flankierte wappengekrönte Portal im Hochparterre des Gebäudes. Im rechten Flügel wohnt eine alte Frau, die uns einen Blick ins Innere des Gebäudes tun läßt. Sie wird nur mehr den Winter über bleiben, für das Frühjahr ist ihr eine neue Wohnung zugesagt. Dann wird das Haus wohl gänzlich preisgegeben, dem Verfall ausgeliefert sein.
Im oberen »Saal«, dem einstigen familiären und gesellschaftlichen Mittelpunkt des Hauses, ist die Decke bereits herabgestürzt. Fußböden sind aufgerissen oder ganz entfernt, im Kaminzimmer links der Eingangshalle steht noch ein bis unter die stukkierte Decke reichender, nur leicht beschädigter Kachelofen. Das Mobiliar ist überall verschwunden. Aus der Eingangshalle führt eine breite Treppe nach oben. Durch das große Fenster im Treppenhaus müßte der Blick auf den von einem Wasserlauf durchzogenen ehemaligen Park hinausgehen. Das Flüßchen, die Peile, ist heute ein schwer belastetes Gewässer; es war uns schon am Ortseingang durch seine blaugraue Färbung aufgefallen und den Schaumteppich, den es mit sich führt wohl die Fracht der Industrieabwässer aus dem Raum Reichenbach/Langenbielau. Das Fenster ist notdürftig mit Brettern verschlagen. In dem spärlichen Licht erkennt man zwei die Wände des Treppenhauses ausfüllende Gemälde. Sie sind erstaunlich gut erhalten. Das eine, mit der Datumsangabe »6. November 1806« versehene, muß den Einzug der napoleonischen Truppen in das bei Lübeck gelegene Ratekau (Rackau) darstellen, wo sich Blücher auf dem Rückzug an die Ostseeküste nach der verheerenden Niederlage der preußischen Armee bei Jena und Auerstädt am 14. Oktober 1806 und dem darauffolgenden Zusammenbruch des preußischen Staates geschlagen geben mußte. Der damals sechsjährige, unweit von Lübeck im Kreis Schwerin in Mecklenburg geborene nachmalige Feldmarschall Moltke dürfte Zeuge der Ereignisse jener Tage gewesen sein. Das Bild an der gegenüberliegenden Wand zeigt offensichtlich Moltke auf dem Höhepunkt des Erfolgs bei der Siegesparade der deutschen Truppen auf den Champs Elysées in Paris am »1. März 1871«.
Das Gut Kreisau hatte Moltke bereits nach dem Sieg von Königgrätz aus einer ihm vom preußischen Staat verliehenen Dotation erworben, hier lebte er und wurde er begraben. Der Zerbrechlichkeit einer auf militärische Siege gegründeten Ordnung war er sich wohl bewußt, wie eine beinahe seherisch anmutende Stelle in Entwürfen zu einer Geschichte des Krieges von 1866 zeigt. Es heißt da: »Müssen wir noch einen Krieg führen,
um dies zu wahren, was der erste schuf, so kann dabei die Frage gestellt sein, ob die Weltgeschichte noch mit einer deutschen Nation zu rechnen haben wird, oder ob deutsches Land die Trümmerstätte sein wird, über welche die Wogen aus West und Ost gegeneinander fluten werden
«
Dem in Kreisau aufgewachsenen jungen Moltke bedeuteten die militärischen Traditionen seiner Vorfahren nicht viel. Seine Familie lebte seit Ende der zwanziger Jahre zudem nicht mehr im Schloß, sondern in dem zum Gut gehörenden, etwas abseits auf einer Anhöhe gelegenen »Berghaus«. Hier, im Schutze ländlicher Abgeschiedenheit, fanden auch jene drei großen Kreisauer Treffen an den Pfingsttagen des Jahres 1942, im Oktober des gleichen Jahres und Pfingsten 1943 statt, auf denen über eine neue Staats- und Gesellschaftsordnung Deutschlands auf der Grundlage des christlich-humanistischen Menschenbildes für die Zeit nach dem erwarteten Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft beraten wurde. Durch glückliche Fügung kennen wir die Dokumente dieser programmatischen Arbeit, die Vorstellungen vom Staat und von der Wirtschaft, vom Verhältnis des Staates zur Kirche, die Leitlinien für das Bildungswesen und die Außenpolitik.
Der Kreisauer Kreis, wie er später nach seiner Aufdeckung genannt wurde, hatte sich etwa seit Anfang 1940 aus einer zunächst lose verbundenen, später zielstrebig tätigen Gruppierung von Gesprächspartnern und Freunden um die Grafen Moltke und Yorck herausgebildet. Moltke - bei der Machtergreifung Hitlers erst 26 Jahre alt - hatte schon lange vor Kriegsausbruch die Gefahr des Nationalsozialismus erkannt. Von seiner Tätigkeit in der völkerrechtlichen Gruppe der Auslandsabwehr im Oberkommando der Wehrmacht, der Moltke mit Beginn des Zweiten Weltkriegs als Sachverständiger für Kriegs- und Völkerrecht zugeteilt war, wußte er viel von den Greueln, die erst in der Nachkriegszeit allgemein bekannt wurden. Er nutzte diese Stellung dazu, wo er konnte, gegenzusteuern, und setzte seine schon als Anwalt begonnene Hilfe für Bedrängte und Verfolgte fort. Kurz vor der berüchtigten Wannsee-Besprechung im Januar 1942, auf der die »Endlösung der Judenfrage« beschlossen wurde, schrieb er verzweifelt an seine Frau: »Ich kann mich gar nicht mehr von dem Gedanken trennen: Wie wird dem deutschen Volk gesagt werden, was jetzt geschieht und was in den nächsten Wochen geschehen wird, und wie werden die Deutschen darauf reagieren? Wenn nicht ein Wunder geschieht, dann werden selbst meine seit Kriegsbeginn geäußerten Kassandrarufe von der Wirklichkeit noch weit in den Schatten gestellt werden.«
Zum Kern des im Lauf der Zeit um sich versammelten Kreises gehörten etwa 20 Persönlichkeiten: Diplomaten, Wirtschaftsfach-
leute, Staatsrechtler und Rechtsanwälte, Sozialdemokraten und Gewerkschaftsführer, ehemalige Zentrumsabgeordnete, Offiziere, Geistliche der katholischen und evangelischen Kirche. Darunter sind so bekannte Namen wie Alfred Delp (um nur einen der Münchner Jesuiten zu nennen), Eugen Gerstenmaier, Theo Haubach, Julius Leber, Hans Lukaschek, Adolf Reichwein, Theodor Steltzer
Auch die Ehefrauen Moltkes und Yorcks, promovierte Juristinnen, in deren Händen die Verwaltung der schlesischen Güter lag, waren einbezogen; ihren Veröffentlichungen bis in die jüngste Zeit - beispielsweise der 1988 erschienenen Sammlung »Briefe an Freya 19391945«, die Moltke beinahe täglich an seine Frau gerichtet hat - ist viel zur Erhellung der Zusammenhänge zu danken.
Aktiver Widerstand im Sinne eines gewaltsamen Umsturzes des Regimes lag Moltke fern. Für ihn konnte eine Neuordnung nicht mit neuem Unrecht begonnen werden. Als Moltke im Januar 1944 überraschend festgenommen wurde, weil er einen Bekannten vor der drohenden Verhaftung gewarnt hatte, zerfiel die Gruppe weitgehend. Ein Teil schloß sich Claus Graf Schenk von Stauffenberg, einem Vetter Yorcks, an und beteiligte sich an der Vorbereitung des am 20. Juli 1944 versuchten Staatsstreichs. Nach dem Scheitern des Attentats kam die Geheime Staatspolizei dem Kreisauer Kreis auf die Spur. Viele Mitglieder mußten dafür mit dem Leben bezahlen. Als einer der letzten von ihnen wurde auch Moltke nach langer Haft als »Hochverräter« hingerichtet, obwohl er mit dem fehlgeschlagenen Attentat Stauffenbergs nachweislich nichts zu tun hatte. Der Volksgerichtshof sah in ihm den geistigen Wegbereiter des 20. Juli und den »wahren Motor« jener Tat.
Worin bestand der »Sprengstoff« der Ideen Moltkes und seines Kreises? Es waren dies die Forderungen nach sittlicher und religiöser Erneuerung des deutschen Volkes auf der Grundlage des Christentums, nach Wiederherstellung der Menschenwürde und des Rechts. Man wollte die Deutschen zu Freiheit und Verantwortung erziehen, die Entwicklung eines natürlichen Gemeinschaftsgefühls fördern und strebte ein freies, demokratisches Staatswesen mit föderativer Gliederung an, getragen vom Verantwortungsgefühl vieler »kleiner Gemeinschaften« durchaus vergleichbar mit heutigen Bürgerinitiativen. Der Grundsatz der »verantwortlichen Mitwirkung« des einzelnen sollte auch im Arbeitsleben gelten; ferner ist vom »Recht auf Arbeit« die Rede und davon, »soziale Gerechtigkeit« zu verwirklichen. Geplant war im übrigen ein auf stufenweise Ausleseprozesse gegründeter Staatsaufbau mit zweiten Kammern auf Länder- und Reichsebene sowie die Beteiligung der »Besten des Volkes« an der Lenkung des Staates. Außenpolitisch sollte sich Deutschland jedes Hegemoniestrebens enthalten und in die zum Ziel gesetzte Europäische Union einordnen. Als deren Grundpfeiler wurden eine Verständigung mit Frankreich und Polen sowie gute Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika und Russland erkannt.
Der ganze Umfang der Arbeit des Kreisauer Kreises ist erstmals durch die Veröffentlichung des niederländischen Historikers Ger van Roon in seinem 1967 erschienenen Werk »Neuordnung im Widerstand« bekanntgeworden. Von ihm stammt der Hinweis, daß es für die Bewältigung der Vergangenheit hilfreich wäre, die Bemühungen des Kreisauer Kreises und seine Alternative zum Nationalsozialismus, diesen in mancher Hinsicht vielleicht utopisch anmutenden Gegenentwurf, besser zu kennen und damit auch der Jugend vertraut zu machen.
Die Reise nach Kreisau gab Gelegenheit, etwas dem nachzugehen, was diesen Ort vor anderen auszeichnet und was die hier zusammengekommenen Männer und Frauen bewegte, wovon Julius Leber vor seiner Hinrichtung gesagt hat: »Für eine so gute und gerechte Sache ist der Einsatz des eigenen Lebens der angemessene Preis.« Winston Churchill sah in ihrem Zeugnis und Opfer »das Fundament eines neuen Aufbaus«. Sie trugen hiermit dazu bei, den Weg für die demokratisch-rechtsstaatliche Entwicklung zumindest im westlichen Teil Deutschlands und die rasche Eingliederung unseres Landes in die Gemeinschaft der freien Völker zu ebnen.
Es hat andererseits nicht an Enttäuschung und Kritik der am Leben gebliebenen Kreisauer gefehlt, daß die im Neubeginn gelegenen Chancen nicht noch besser genutzt wurden. Auf diesen Umstand hat W. E. Winterhager in dem lesenswerten Begleitband zu einer 1985, im Jahr der 40. Wiederkehr des Kriegsendes, dem Kreisauer Kreis gewidmeten Ausstellung der »Stiftung Preußischer Kulturbesitz« in Berlin hingewiesen und eine Äußerung Gerstenmaiers, des langjährigen Bundestagspräsidenten, zitiert, wonach es für den, der über den politischen Alltag hinausblicke, nach wie vor brennend notwendig erscheine, zu einer Rückbesinnung auf die Anliegen des Kreisauer Kreises zu gelangen. Für die heute in den USA lebende Witwe Moltkes hat sich, wie sie in einem kürzlich veröffentlichten »Zeit«-Gespräch mit Gräfin Dönhoff feststellt, »in der Bundesrepublik leider sehr wenig (von den Vorstellungen der Kreisauer) niedergeschlagen, in der DDR überhaupt nichts«. Man mag sich fragen, was anders geworden wäre, wenn Moltke seine Ideen in den Parlamentarischen Rat (zur Erarbeitung des Grundgesetzes) hätte einbringen können.
In der Vergangenheit sind wiederholt Versuche unternommen worden, das Kreisauer Gutshaus vor dem Verfall zu retten und als Symbol des Widerstands gegen die Hitler-Tyrannei zu erhalten. Auch der Gedanke, die Räumlichkeiten für eine Begegnungsstätte von Polen und Deutschen, insbesondere für die von den Schatten der Vergangenheit unbelastete Jugend beider Länder, zu nutzen, ist nicht neu. Bis vor kurzem fehlte es polnischerseits jedoch an der nötigen Resonanz. Erst in allerjüngster Zeit zeichnet sich in den Fragen des deutsch-polnischen Verhältnisses ein bemerkenswerter Wandel ab. Von einem neuen Kapitel in den
gegenseitigen Beziehungen ist die Rede und davon, den deutschen Wünschen nach Errichtung einer Gedenkstätte für den »bürgerlichen Widerstand gegen Hitler um Graf von Moltke in Kreisau« entgegenzukommen sowie in der Frage der Ortsbezeichnungen in den ehemaligen deutschen Ostgebieten und beim Jugendaustausch.
Dies gibt zu der Hoffnung Anlaß, daß es für die Restaurierung des Gutshauses in Kreisau noch nicht zu spät ist. Und wenn dies zu aufwendig sein sollte, wäre auch an das kleinere, obschon abgelegene Berghaus zu denken, in dessen Räumen die Erinnerung an das hier über den Tag hinaus Gedachte sich vielleicht noch unmittelbarer wachhalten läßt. Wichtiger als dieses ist jedoch, das an keinen Standort gebundene Vermächtnis des Kreisauer Kreises und das Andenken an das große menschliche Beispiel von Helmuth James Graf von Moltke und der Persönlichkeiten um ihn für uns und andere zu bewahren. Die Botschaft von Freiheit und Demokratie und die Wiederbesinnung auf die abendländisch-humanistischen Traditionen scheinen im 50. Jahr nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gerade in den osteuropäischen
Ländern aktueller denn je.
Am 12. November 1989, nur wenige Tage nach dem überraschenden Fall der Berliner Mauer, fand auf dem Gutshof von Kreisau die von Bischof Alfons Nossol aus Oppeln zelebrierte sog. »Versöhnungsmesse« statt, an der der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl teilnahmen. In der Folge konnten bestehende Überlegungen, in Kreisau eine internationale Jugendbegegnungsstätte einzurichten, konkretisiert werden. Sie wurde am 11. Juni 1998 in den um- und ausgebauten Gebäuden des Kreisauer Gutshofs eröffnet; aus dem Berghaus ist eine Gedenkstätte an den »Kreisauer Kreis« geworden.